Julie von Kessel skizziert in ihrem Roman die Geschichte einer adligen Familie, die ihre Heimat Ostpreußen in den letzten Kriegswochen verlassen muss und über einen weiteren Familiebesitz, Altenstein in Brandenburg, schließlich in den Westen gelangt und im Rheinland ansässig wird.
Der Erzählbogen spannt sich vom Jahr 1943 bis 2005, doch geschieht dies nicht chronologisch, sondern findet auf mehreren unterschiedlichen Zeitebenen in ungeordneter Reihenfolge statt.
So ungewöhnlich der Aufbau des Romans ist, was den Lesefluss erheblich behindert und dem Leser ein gewisses Maß an geistiger Flexibilität abverlangt und durchaus zu manchen Verwirrungen und Unklarheiten führt, so klar und gewählt ist jedoch die Sprache der Autorin, die sich auf hohem Niveau bewegt.
Nie auch verliert sie sich im Dramatischen, nie in dessen Gegenteil. Daduch wird es dem Leser nicht leicht gemacht, sich den Charakteren des Buches zu nähern. Diese bleiben seltsam blaß, was sich auch bis zum Ende der Geschichte nicht ändert.
Und sie sind überdies von komplizierter, sperriger Natur, allen voran Agnes, das Oberhaupt der Familie von Kolberg, die die Flucht tatkräftig und effizient organisiert wie auch den folgenden Neubeginn im Westen. Sie nötigt dem Leser zwar Respekt ab, gewinnt aber kaum seine Zuneigung, da sie von rigoroser Natur ist und trotz aller Bemühungen für ihre Kinder sich selbst immer am nächsten ist.
Die Kinder selbst sind natürlich durch diese dominante Mutter und all die Erlebnisse auf der Flucht geprägt und ihr Leben als Erwachsene nimmt Verläufe, die von unheilbarer Zerrissenheit sprechen.
Julie von Kessel konzentriert sich hauptsächlich auf die beiden jüngsten Sprösslinge der Kolbergs, längst nicht auf alle, was auch in Ordnung ist, denn deren Lebensläufe bewegen sich eher unauffällig und in weniger dramatischen Bahnen.
Viel Schweres und Trauriges kommt zur Sprache, das manchmal beinahe unerträglich wird.
So geschieht es, dass Konrad, das jüngste Kind der Familie, der eigentlich nie richtig ins Leben gefunden hat, der vieles ausprobiert, aber im Grunde untüchtig ist, beschließt, nach der Wende den Besitz in Brandenburg, Altenstein, zurückzuerhalten.
Dabei schätzt er nicht nur die Gesetzeslage zur Rückgabe konfiszierter Ländereien und Besitze falsch ein, sondern auch die Bereitschaft seiner Geschwister, seine Bemühungen mitzutragen oder zu unterstützen. Und so kommt es, wie es kommen muss - und der Leser muss mitansehen, wie eine Familie, die so viel Schweres miteinander durchgestanden hat in den schlimmen Zeiten, in den guten langsam auseinanderfällt....
Nein, ein leichtes und gefälliges Buch ist "Altenstein" gewiss nicht! Kein am Ende versöhnliches und auch keines, das man nach dem Lesen befriedigt beiseite legt. Unbeantwortete Fragen schweben im Raum, unwillkürlich auch stellt man Vergleiche an zu anderen Romanen, die man zu dem Thema Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg gelesen hat. Eindringlichere Romane, solche, die nicht so spröde daherkommen, bei deren Lektüre man nicht der stille Beobachter ist, der sich an die Geschichte und ihre Handlungsträger nicht annähern möchte, auch nicht kann, sondern die den Leser sofort in ihren Bann ziehen. Dies vor allem vermisse ich bei Julie von Kessels Werk - es berührt mich nur oberflächlich, geht nicht tiefer, wird ständig überlagert von eben jenen zitierten Büchern anderer Autoren zum selben Thema. Und daran kann auch die geschliffene Sprache zu meinem Bedauern nichts ändern!