Als Rezensent lebt man ständig mit der Schwierigkeit eine negative Kritik zu verfassen. Man will seine Meinung sagen, sich selbst nicht verraten, aber niemanden verletzen. "Annika" bekommt eine solch negative Rezension, weil die Erotikszenen in ihrem Buch nicht gut genug sind. Mich hat interessiert, wie man mit Kritik umgehen kann und was eine gute Sexszene ausmacht. Auf beides habe ich weder eine Argumentation noch eine wirklich Antwort gefunden. Ja, "Annika" würde diese Rezi hassen.
Worum geht es?
Um eine Autorin, die eine schlechte Kritik bekommen hat und kurzerhand in einen Sexshop geht, um sich weiterzubilden. Sich dabei in die Verkäuferin verliebt und ihr ihre wahren Absichten verschweigt.
Rezi enthält Spoiler.
Wie hat mir das Buch gefallen?
Mäßig. Der Text lebt vor allem von zwei Dingen: Annikas Love-Interst Rosa und von einer Erotikmesse, die beide besuchen.
Rosa war für mich als Figur plastisch, was ich selten erlebe. Sie hat ihre eigene Sprache, ist laut und lebendig und steht für sich ein. Im Gegensatz zu Annika, die für mich nicht stimmig war. Sie wird als schüchtern beschrieben, geht aber oft auf Rosa zu. Ich hatte nie das Gefühl, dass ihr etwas wirklich schwer fällt. Die beiden und das Thema hätten viel Raum für Situationskomik geboten, aber das war nicht der Fall.
Brutus ist Annikas bester Freund und zu liebenswert. Er ist ein guter Gegenpol zur melodramatischen Autorin, bekommt aber ab der Hälfte nur noch wenig Screentime.
Ohnehin sind die Rollen klar verteilt: Rosa ist Annikas Ideal und die Figur, an der sie ihr Problem abarbeitet. Brutus ist das gute Gewissen und eröffnet einen Nebenhandlungsstrang.
Annika wirkte auf mich nie wie eine "richtige" Autorin - sie recherchiert ein bisschen, das war es. Und sie zündet Kerzen an, um sich für die jeweilige Szene in Stimmung zu bringen. Das habe ich schon von Autor:innen gehört. Ich denke, es gäbe genug Wissen, um Atmosphäre zu erzeugen, aber vielleicht war das nicht interessant genug?
Spannend fand ich Annikas Umgang mit Social Media: Zuerst verbirgt sie sich hinter Brille, Hut und Frisur, später offenbart sie sich und vereint Autorenpersönlichkeit ein Stück mit der Privatperson. Ich fand die Idee gut, die Lösung aber klischeehaft. Es kann erlösend sein, sich vor der Community zu öffnen, es macht aber auch angreifbar. Annika wägt das Für und Wider nicht ab. Und leider fand ich auch die Szenen im Livestream sehr hölzern. Ich stelle es mir schwierig vor, etwas so Lebendiges zu schreiben und dem Leser eine Gemeinschaft zu vermitteln, die schon lange existiert. Trotzdem war ich damit nicht glücklich.
Der Grundkonflikt, dass Annika viel lügt, hat mich kaum abgeholt. Gerade, WEIL ich ihn verstehen kann. Denn natürlich möchte man sich in einer Welt, in der Erotik immer noch ein Tabu ist, nicht offenbahren. Aber Annika ist so getrieben von ihrem Frust, dass sie darüber gar nicht nachdenkt. Sie steht nicht für sich ein. Für sie geht es nur darum, nicht als schlechte Autorin dazustehen. Brutus liefert hier viel Input, aber das Thema ist viel größer, als uns das der Roman zeigt. Dass Rosi deswegen sauer ist, verstehe ich gut. Aber die Lösung ist auch hier ganz einfach: Wenn man liebt, verzeiht man. Aber was ist, wenn der Partner auch in anderen Situationen so emotional reagiert? In welchen Situationen lügt er noch? Was beide Figuren ganz am Anfang verhandeln müssen, das Vertrauen, ist wichtig. Aber: Die Liebe regelt das schon.
Sehr gut fand ich die Szenen auf der Sexmesse. Die beiden machen einen Knotenworkshop, auf dem viele realen Kenntnisse vermittelt werden und in denen man die Figuren mal MITEINANDER gesehen hat. Ich fand es schön, ihre Persönlichkeiten und Unterschiede zu entdecken. Außerdem wirkte Annika hier positiv! Es hat tatsächlich geknistert.
Es gibt sehr wenig Erotik, was ich toll fand. Aber das wenige, was wir sehen, hat mich nicht bewegt.
Der Schreibstil hat mit seinen vielen Beschreibungen oft die Stimmung gestört und Tempo und Spannung aus Szenen genommen.
Und den Titel finde ich auch passend, aber langweilig. Er hat zu große Erwartungen geschürt.
Fazit
Ich mochte die Grundidee sehr und Rosi als Figur. Aus der introvertierten Annika hätte man aber viel mehr machen können. Auch die Handlung erfindet das Rad nicht neu, sondern folgt ausgetretenen Pfaden.