Wirklich gute Kriminalromane weisen weit über das geschilderte Verbrechen hinaus. Sie zeigen menschliche Abgründe, gesellschaftliche Verwerfungen, politische Verstrickungen. Im besten Fall ist man am Ende bestens unterhalten, um einige Schlafstunden ärmer und hat etwas erfahren, von dem man vorher noch nicht wusste. Die Kriminalromane des Kroaten Jurica Pavičić, der neueste Blut und Wasser ist 2020 erschienen, sind zweifellos wirklich gut.
Blut und Wasser beginnt im September 1989. Die großen Verwerfungen, die in diesem Jahr in Europa noch stattfinden werden, sind allenfalls zu erahnen. Im kleinen Fischerort Misto an der dalmatinischen Küste geht gerade der Sommer zu Ende. Die siebzehnjährige Silva kehrt nach dem Besuch eines Sommerfestes nicht nach Hause zurück und bleibt verschwunden. Die eingeschaltete Polizei sucht in einer groß angelegten Aktion die Küste, ihre Felsspalten und Höhlen und die sie umgebende Landschaft ab. Alle Bewohner Mistos werden befragt, doch von Silva fehlt jede Spur.
Früh in den Kreis der Verdächtigen rücken Silvas Freund Brane Rokkov und der Bäckerssohn Adrian Lekaj, mit dem Silva das Fest spätabends verlassen hat. Brane war zum Zeitpunkt der Tat im Bus auf dem Weg von Rijeka, wo er sich für ein Studium eingeschrieben hat. Er hat also ein Alibi. Adrian hingegen behauptet zwar, das Mädchen gegen 23 Uhr verlassen zu haben, auf dem Hof der Rokkovs findet man aber nach einem anonymen Anruf eine mit Blut besprenkelte Holzlatte. Doch auch „scharfe“ Befragungen durch den Polizisten Gorki Šain und den jungen ehrgeizigen Inspektor Čović finden keine neuen Belastungspunkte oder Indizien.
Da tauchen Verdachtsmomente auf, dass Silva keineswegs ein so unschuldiges, wenn auch rebellisches Mädchen war, wie es ihre Eltern Jakob und Vesna gerne glauben möchten. Anscheinend hat die lebenslustige Silva Drogen genommen und war auch als Dealerin tätig. Einige Wochen später taucht eine Zeugin auf, die aussagt, Silva am Tag ihres Verschwindens am Busbahnhof getroffen zu haben, wo diese ein Ticket ins Ausland gekauft habe. Daraufhin werden die Untersuchungen nicht mehr vorrangig vorangetrieben und hören zum Zeitpunkt von Silvas Volljährigkeit nahezu ganz auf.
Nur Silvas Zwillingbruder, der ruhige und besonnene Mate, will die Suche nach seiner Schwester nicht aufgeben. Seine Mutter bestärkt ihn darin, während der Vater gerne abschließen möchte, auch eine gewisse Wut auf seine Tochter verspürt, die so ohne jede Nachricht aus ihrem Leben verschwunden ist.
Handelt es sich hier überhaupt um einen Kriminalfall? Zumindest hält Jurica Pavičić in Blut und Wasser die Spannung bis zum Ende hoch. Nicht nur die Familie will wissen, was mit Silva passiert ist, wohin sie verschwunden ist und vor allem, warum sie sich niemals gemeldet hat. Im Zentrum des Romans steht die Frage, was das Verschwinden eines Menschen mit seiner Umgebung anstellt. Verdrängen oder obsessives Verfolgen jeder kleinen Spur? Wut oder Verstehenwollen? Die Familie wird an diesen unterschiedlichen Strategien und der Ungewissheit zerbrechen. Und auch die Gemeinschaft des kleinen Orts, die Nachbarschaften, gehen nicht unberührt aus den Ereignissen hervor.
Hinzu kommt, und das macht Blut und Wasser dann endgültig zu einem großen Gesellschaftsporträt, dass sich das Land Jugoslawien nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf einen Abgrund zu bewegt. Die Veränderungen im Land beschränken sich nicht nur au den „Austausch“ von Funktionären, dem auch Gorki Šain, der ermittelnde Beamte, zum Opfer fällt, sondern erschüttern das gesamte wirtschaftliche und politische System. Die Konflikte zwischen den Kroaten und der nun als Minderheit klassifizierten Serben eskaliert 1990 und führt 1991 zum Kroatienkrieg, der bis 1995 über zehntausend Todesopfer fordert und dem auch Adrian Lekaj zum Opfer fällt.
Jurica Pavičić verfolgt die Figuren bis ins Jahr 2017. Schon lange hat der „Ausverkauf“ des Landes an den Tourismus seine Spuren hinterlassen, die alten Dorfstrukturen sind auch in Misto zerstört, Familien und Ehen zerbrochen und Silvas Verschwinden wird letztendlich aufgeklärt. Nebenbei haben die Leser:innen ein eindrückliches Gesellschaftsporträt, einen Abriss der jüngeren kroatischen Geschichte und intensive Figurenschilderungen gelesen. In nüchternem, fast berichtendem Tonfall erzählt der Autor aus unterschiedlichen personalen Perspektiven. Das ist gut konstruiert, vielschichtig und spannend, da nicht nur die Personen im Roman, sondern auch die Leser:innen lange im Dunkeln gelassen werden. Blut und Wasser bietet alles, was einen wirklich guten Kriminalroman ausmacht.