(TW: Physische|psychische|sexuelle häusliche Gewalt)
„Aber nur ich weiß, was diese Träne bedeutet: eine Träne der Müdigkeit, des Schmerzes, der Qualen, des Leidens … Eine Träne der Erlösung“ (S.365).
Es sind die Einsamkeit, der Wunsch nach Absicherung, die Sehnsucht nach einem festen Partner an der Seite sowie ein gewisses Sicherheitsdenken, die Ich-Erzählerin Marta nach dem Tod ihrer Mutter dazu veranlassen, im Jahr 2016 eine recht überstürzte und sogenannte Konvenienzehe mit Maksym einzugehen. Einen Mann, den sie kaum kennt. Doch Maksym erweist sich zunächst als gebildet, zuvorkommend, höflich und karrierebewusst. Die Liebe? Sie wird schon noch kommen, davon ist Marta überzeugt.
Schon bald entpuppt sich Maksym jedoch als menschliches Monster und für die junge Frau beginnt eine erschütternde mehrjährige Odyssee durch die Hölle. Maksym offenbart sich zunehmend als egozentrisch, despotisch, selbstsüchtig, brutal in seinen Worten und Handlungen, unberechenbar, kontroll- und alkoholsüchtig, würdigt Marta in ihrer menschlichen Würde herab, ist nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht, entfremdet seine Frau von ihren Freund*innen und ist vor allem gewaltbereit. Von nun an durchziehen diverse Formen der Gewalt Martas Leben und manifestieren sich in unerträglichen Ausprägungen, sei es verbal, physisch, psychisch, ökonomisch, sozial oder sexuell determiniert.
Doch bereits auf den ersten Seiten | durch den Klappentext suggeriert, erfahren wir ganz spoilerfrei als Leser*innen, dass Maxim tot ist und 2021 zu Grabe getragen wird. Wie kam es zu seinem mysteriösen Tod? Welche Umstände begleiten dieses Ereignis? In welcher sukzessiven Weise geraten Frauen in toxische Abhängigkeit und bleiben jahrelang darin verhaftet? Welche Bedeutung hat es, die persönliche Freiheit erst durch den Tod einer anderen Person zurückzugewinnen? Wie gelang es Marta, sich und ihren Sohn letztendlich aus dieser langjährigen Gewaltbeziehung zu befreien? Welche Rolle spielt das Re-Empowerment in diesem Prozess? Diese Fragen stehen unter anderem im Zentrum des lesenswerten Romans der ukrainischen Autorin Natalja Tschajkowska.
Die Autorin vermittelt durch die Innenperspektive ihrer starken Erzählerin wertfrei und ohne Tabuisierungen die sichtbaren und unsichtbaren Narben häuslicher Gewalt. Der Roman zeigt dabei eindrücklich die tiefgreifenden Auswirkungen auf Martas Psyche, ihr Selbstwertgefühl, ihren Kampf mit Scham und Schuldgefühlen, ihre Suche nach Entschuldigungen, die Ablehnung von Hilfe bei gleichzeitig fehlender Unterstützung im sozialen Umfeld, ihre Vermeidung von Provokationen, um die gewalttätige Seite ihres Mannes nicht zu wecken und der harte Kampf um die Rückeroberung ihres Selbstwertes|-wirksamkeit. Auch der patriarchalisch geprägte und alkoholsüchtige Vater spielt vor diesem Hintergrund für die Reinszenierung von Martas Kindheitserfahrungen eine entscheidende Rolle.
„All die Frauen, die das hier überleben" bewegt zutiefst, verlangt sicherlich eine gewisse emotionale Widerstandskraft und eine Resilienz. Gleichzeitig birgt er Hoffnung, so viel sei versprochen. Für mich ein unverzichtbares literarisches Zeugnis über häusliche Gewalt, weibliche Unterdrückung, Misogynie sowie gesellschaftliche Missstände, das für die komplexen Dynamiken von Gewaltpartnerschaften und deren Auswirkungen auf weibliche Opfer sensibilisiert. Große Leseempfehlung!
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Jutta Lindekugel.