Rezension zu "Wiederholte Verdächtigungen" von Jutta Reichelt
~~~ 4,5 Sterne ~~~
Christoph ist verschwunden. Eigentlich wollte er nach ein paar Stunden wieder da sein, aber dann erhält seine Freundin eine SMS, er habe sich da „idiotisch in etwas verrannt“. Beunruhigt über sein Wegbleiben beginnt Katharina zu spekulieren.
Da ich eigentlich nicht gerne einfach nur den Klappentext abtippe, fasse ich normalerweise den Inhalt selbst kurz zusammen. Ich muss sagen, es gibt mehrere Gründe, dies hier nicht getan zu haben: Zum einen gefiel mir keine der Formulierungen, die ich finden konnte, zum anderen ist allein der Klappentext ein kleiner Hinweis darauf, was den Leser Besonderes in diesem kleinen Buch erwartet.
Autorin Jutta Reichelt arbeitete 6 Jahre an diesem Werk, was sich in jeder einzelnen Zeile bemerkbar macht. Jeder Satz, jede Formulierung, jeder Interpretationsspielraum ist sorgfältig ausgewählt und bis ins kleinste Detail durchdacht.
Wo ich einen Roman über das rätselhafte Verschwinden des Protagonisten und die Auflösung dessen erwartet habe, habe ich so viel mehr erhalten:
Gekonnt spiegelt sie Emotionen und Gedanken Kathrins wieder, perfekt formuliert sie Dinge, die den Leser zum anregen – müssen –!
„Vielleicht versteckt sich Christoph schon seit Langem und ist nun verschwunden, um sein ständiges Verstecktsein erst sichtbar zu machen“ (S. 42).
Aussagen wie diese – mal subtil, mal mit dem „Vorschlaghammer“ der Deutlichkeit reißen mich als Leser absolut mit, lassen mich eintauchen in die Gedankenwelt der Protagonisten.
Doch bleiben auch viele Fragen offen: Warum ist die Unfähigkeit miteinander zu kommunizieren hier so stark ausgeprägt? Ist es in anderen Beziehungen anders? Ganz heimlich und leise beginnt man, die Fragen auf die eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen zu projizieren und legt das Buch immer wieder weg, um darüber nachzudenken, das Gelesene wirken zu lassen.
Inhaltlich sei so viel verraten: Christoph taucht wieder auf! Doch ob uns verraten wird, wo er gesteckt hat und warum er verschwunden ist? Wer erwartet, die Antworten darauf hier auf dem Silbertablett serviert zu bekommen, wird enttäuscht sein. Wer hingegen selbst seine Hirnwindungen anstrengt, wird seine Freude haben ob der Interpretationsmöglichkeiten.
„Lass uns erst einmal eine Weile so tun, als sei alles in Ordnung.“ (S. 91) – eine Aussage, die wie ein Damoklesschwert über dem gesamten Buch schwebt.
Lange habe ich über diese Rezension gegrübelt, das Buch nachwirken lassen, es auch nach dem Lesen noch hier und da zur Hand genommen – was allein schon Beweis genug ist, was es in mir in Bewegung gebracht hat!
Ganz bewusst möchte ich hier nicht näher auf den offensichtlichen Inhalt, die Charakterisierung der Protagonisten und die typischen „Merkmale“ eingehen.
Hier ist es vielmehr der Zauber zwischen den Zeilen, die in der Leserunde mehrfach erwähnten Leerstellen – besser kann man es nicht ausdrücken! –, die dieses Buch zu einem wirklich besonderen Leseerlebnis gemacht haben.
In der Leserunde mit der Autorin gab es noch den einen oder anderen Denkanstoß on top, den ich auf mich habe wirken lassen.
Einzig ein Gedankengang erschloss sich mir tatsächlich nicht ganz beim Lesen (nach der Erklärung selbstredend schon, doch kam mir das im Buch selbst nicht deutlich genug heraus), nämlich der auslösende Moment zu Christophs Verschwinden. Auch wenn man natürlich seine Thesen dazu bilden kann, ein kleines bisschen mehr wäre hier für meinen persönlichen Geschmack optimal gewesen.
Ein herzliches Dankeschön geht natürlich insbesondere an Jutta Reichelt, die in der Leserunde geduldig die Fragen und Anmerkungen der Leser beantwortet hat!
Eine klare Leseempfehlung für alle aktiven Leser, die sich nicht nur „berieseln“ lassen möchten, sondern auch mal über das Geschriebene – sowie das Nicht-Geschriebene! – nachdenken möchten!