Die Außenpolitik des deutschen Kaiserreiches genießt seit jeher keinen guten Ruf, gilt sie doch gemeinhin als wesentlicher, wenn nicht gar als entscheidender Faktor, der zur Verschärfung der Großmachtkonflikte in Europa und zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges beigetragen habe. Andreas Rose lässt keinen Zweifel daran, dass das Deutsche Reich in der Tat einen großen Teil der Kriegsschuld trägt. Zugleich relativiert er aber die Rolle Deutschlands, indem er auch das Handeln der anderen Großmächte in seine Darstellung einbezieht. Er gelangt dadurch zu einem vielschichtigen Bild der Entwicklung des europäischen Staatensystems am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Das Buch schließt nahtlos an den Vorgängerband über Bismarcks Außenpolitik an und weist die gleichen Stärken auf, vor allem eine klare und verständliche Präsentation von Fakten, Argumenten und Interpretationen sowie die Bezugnahme auf den aktuellen Forschungsstand.
Das erste Kapitel ist als eine Art Prolog angelegt. Rose erörtert einige Aspekte, die für das Verständnis der deutschen Außenpolitik nach Bismarcks Abgang von Bedeutung sind: Die undurchsichtigen politischen Strukturen und Entscheidungsprozesse im Kaiserreich; die wachsende Bedeutung von Presse, Öffentlichkeit und gesellschaftlichen Interessengruppen (z.B. Alldeutscher Verband, Flottenverein); Deutschlands Aufstieg zu einer der führenden Industriemächte; die Intensivierung der Großmachtkonkurrenz bei der kolonialen Aufteilung der Welt; Zeitgeist und Ideologien (z.B. Sozialdarwinismus, Nationalismus, Prestigedenken). All diese Faktoren bildeten den Hintergrund, vor dem sich die Außenpolitik des Kaiserreiches vollzog. Rose möchte Deutschland als "normale" Großmacht verstanden wissen. Er betont, dass das Streben nach Kolonien, "Weltgeltung" und dem Besitz einer großen Flotte keine deutsche Besonderheit war. Alle Staaten, die sich als Großmacht verstanden, sahen sich zu einer "Politik der Stärke" gezwungen, um ihren Status zu bekräftigen. Wer keine selbstbewusste, auftrumpfende Außenpolitik betrieb, wer nicht am Wettrüsten teilnahm, der setzte sich dem Risiko aus, im Daseinskampf der Nationen den Kürzeren zu ziehen.
Auch wenn sich Rose dagegen ausspricht, die Außenpolitik des Kaiserreiches in Bausch und Bogen zu verurteilen, entwirft er doch alles in allem ein vernichtendes Bild von den Leistungen der deutschen Diplomatie. Die Außenpolitik Deutschlands zwischen 1890 und 1914 erscheint auch in seiner Darstellung als Abfolge von Fehlentscheidungen, Fehlkalkulationen und Selbsttäuschungen. Nur einige Punkte können hier herausgegriffen werden. Als besonders folgenschwerer Fehler erwies sich die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland. Hatte Bismarck mit seiner komplizierten Bündnispolitik noch darauf abgezielt, Kriege zu verhindern, so setzte sich unter seinen Nachfolgern die pessimistische Auffassung durch, ein Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland werde sich auf Dauer sowieso nicht vermeiden lassen. War Bismarcks Außenpolitik eine Politik der Kriegsvermeidung gewesen, so war die Außenpolitik seiner Erben eine Politik der Kriegserwartung. Die Abwendung von Russland ebnete dem französisch-russischen Bündnis von 1894 den Weg. Frankreich konnte aus der Isolation heraustreten, in der Bismarck es seit 1871 gehalten hatte.
Immer wieder mußte die deutsche Diplomatie Niederlagen einstecken und Misserfolge verkraften, die sie zum größten Teil selbst verschuldet hatte. Etliche Grundsatzentscheidungen erwiesen sich langfristig als kontraproduktiv. Die mit enormem rhetorischem und propagandistischem Aufwand betriebene, in ihren konkreten Zielsetzungen aber unklare "Weltpolitik" der Bülow-Jahre verprellte Großbritannien und schürte das Misstrauen gegen Deutschland. Der kostspielige Flottenbau verfehlte sein Ziel, Großbritannien zu der Einsicht zu bringen, dass es in eigenem Interesse ein Bündnis mit Deutschland eingehen müsse. Jahrelang ließen sich der Kaiser und seine Diplomaten von der gefährlichen Illusion leiten, Großbritannien, Frankreich und Russland würden sich aufgrund ihrer Kolonialrivalitäten niemals verständigen können. Mit der Entente cordiale von 1904 und der britisch-russischen Verständigung von 1907 wurde Berlin eines Besseren belehrt. Zweimal führte das Kaiserreich Krisen um Marokko herbei, nur um jedes Mal eine blamable Niederlage zu kassieren. Die immer engere Anlehnung an Österreich-Ungarn, den einzigen verbliebenen Verbündeten von Wert, führte dazu, dass Deutschland, beginnend mit der Krise um die österreichische Annexion Bosnien-Herzegowinas (1908), tiefer und tiefer in die Balkan-Wirren hineingezogen wurde – mit den bekannten Folgen.
Am Ende war das Kaiserreich isoliert und scheinbar "eingekreist". In der Juli-Krise schien sich eine Chance zu bieten, die vermeintliche Einkreisung zu sprengen, auch wenn es darüber zu einem großen europäischen Krieg kommen sollte. Wer verstehen will, wie es zum Ersten Weltkrieg kam, der kommt nicht darum herum, der deutschen Außenpolitik seit der Reichsgründung Aufmerksamkeit zu schenken. In Anlehnung an die neueste Forschung streicht Rose die Mitverantwortung Frankreichs und Russlands für den Ausbruch des Weltkrieges heraus. Zugleich zeigt er aber auf, wie sich Deutschland seit 1890 schrittweise in eine derart verfahrene außenpolitische Situation manövriert hatte, dass im Juli 1914 nur der militärische Befreiungsschlag als Ausweg in Frage zu kommen schien. Wilhelm II. und seine Diplomaten standen stets vor dem gleichen Dilemma wie Bismarck: Deutschland, eine Macht von "halbhegemonialer Stellung", schaffte es nicht, sich ins europäische Mächtesystem einzufügen. Eigene Fehler trugen dazu bei, aber auch der Unwille der anderen Mächte, den "Emporkömmling" Deutschland zu integrieren. Gerade Großbritannien war nicht gewillt, Deutschland als ebenbürtigen Partner anzuerkennen, wie Rose mehrfach betont.
Mit seinen beiden Bänden über die deutsche Außenpolitik zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg hat Andreas Rose zwei hervorragende Überblicksdarstellungen vorgelegt. Sie sind der ideale Ausgangspunkt für alle, die sich eingehender mit der Außenpolitik des Kaiserreiches beschäftigen wollen.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Februar 2014 bei Amazon gepostet)