Cover des Buches Die Straße der Geschichtenerzähler (ISBN: 9783833310584)
Rezension zu Die Straße der Geschichtenerzähler von Kamila Shamsie

Eine Geschichte mit dem Blick für jedes kleine Detail

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 8 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 8 Jahren
Labraunda. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges trifft Vivan bei einer Ausgrabung Tahsin Bey, einen alten Freund ihres Vaters und verliebt sich in ihn. Doch der Krieg bringt sie auseinander - mit einem Versprechen: nach dem Krieg werden sie heiraten. Nie vergisst sie den Freund und Vertrauten - und seinen größten Wunsch. Den Silberreif des Skylax finden.



Das Buch ist in unterschiedliche Einheiten untergliedert. Zum einen teilt es sich in zwei Bücher, wobei das erste die Zeit der Ausgrabung und des Krieges umfasst, während das zweite im Jahr 1930 spielt und den Aufstand innerhalb der Straße der Geschichtenerzähler thematisiert. Innerhalb dieser Bücher gibt es größere Abschnitte, die durch einer Phrase oder ein bestimmtes Stichwort gekennzeichnet sind, wobei sich hier meist Sinnabschnitte oder Perspektivwechsel befinden. Die kleinste Einheit bilden die Kapitel, die einem speziellen Datum oder zumindest einem bestimmten Zeitraum zugeordnet sind. Dabei wird nicht vollkommen chronologisch erzählt, sondern auch mal Sprünge von einem Tag zu einem vorherigen vollzogen. So endet beispielsweise die Sichtweise von Qayyum einmal am 25. April 1930 auf der Suche nach seinem Bruder - dann: ein Sprung. Es wird wieder vom 23. April 1930 erzählt, diesmal aus der Sicht von Najeeb, Diwa und Zarina. Diese Sprünge stören aber nicht. Ich fand sie vielmehr interessant, weil so die Spannung beinahe ins Unermessliche gesteigert wird und sich erst mit dem Perspektivwechsel nach und nach auflöst. Eigene Gedanken werden nochmal gehörig auf den Kopf gestellt. So wird es nie eintönig.

Allgemein ist die Geschichte wundervoll konstruiert. Trotzdem haben mich vor allem einige Details der Ausgrabungen ein wenig gestört. Gerade im ersten Abschnitt fand ich es ein wenig problematisch, wie schnell die Ausgrabung wieder vorbei war. Ich hab mich gefragt, ob es für die Geschichte einfach nicht weiter relevant war und nur als Einleitung gedacht war oder was dahinter gesteckt hat, dass nach 20 Seiten einer der spannenden Teile schon wieder vorbei war. Mein zweites Problem betrifft die Ausgrabung im zweiten Teil: hier ging es mir wieder zu schnell. Najeeb findet eigentlich auf Anhieb den Reif. Ich kann ja nachvollziehen, dass er eine grobe Ahnung davon haben muss, wo er suchen sollte. Aber dass er praktisch sofort die richtige Stelle erwischt finde ich schon etwas zu einfach.

Aber das war für alles gar nicht so tragisch. Mir hat die Geschichte so gut gefallen, dass ich diese kleinen Defizite sofort wieder vergessen konnte. Ich habe mitgefiebert ohne Ende und konnte gar nicht aufhören zu lesen. Ich habe mir ständig Gedanken darum gemacht, wie es weitergehen könnte und wie die Menschen mireinander zusammenhängen werden. Alles ist genauestens durchdacht.

Auch gut gefallen hat mir der Rahmen, der um die ganze Geschichte gelegt wurde. Zu Beginn wird der Anfang der Reise des Skylax erzählt, der Reif beschrieben... Man wird sozusagen in die antike Welt geworfen, bevor man sich wirklich mit dem 20. Jahrhundert auseinandersetzt. Der Kreis schließt sich am Ende des Buches, als wiederum die Erzählung um Skylax eingearbeitet wird, um die Frage zu klären: warum hat Skylax sich gegen Persien gewandt? Es war ein schöner Rahmen - eine Erzählung in der Erzählung, der dem ganzen Buch nochmal etwas Besonderes verliehen hat. Es war eine runde Sache.


Auch die Charaktere waren in sich stimmig und rund. Besonders gefallen hat mir Vivian, die zwar immer an ihrem Vater hängt, aber doch eine gewisse Unabhängigkeit ausstrahlt. Sie steht für mich so ein kleines bisschen für Indien - noch ist sie abhängig, doch sucht sie einen Weg, sich selbst zu verwirklichen und sich unabhängig zu machen. Sie unterstützt die Einheimischen, wird zur Lehrerin. Sie war für mich einfach menschlich und total sympathisch. Ebenso wie Najeeb, der mir aber doch einige Sorgen bereitet hat.

Dagegen wusste ich bei Qayyum nicht immer so ganz, was ich denken sollte. Einerseits war er ein friedfertiger Geselle (zumindest nach dem Krieg). Seine Einstellung fand ich allerdings bisweilen etwas fragwürdig. Ich mochte sein Gespür für die kleinen Dinge im Leben. Für die Obstbäume. Für den Duft der Heimat. Und für seinen kleinen Bruder. Andererseits hat mich seine Suche nach einem Heer irgendwie immer etwas verwirrt. Auch stand etwas die Frage im Raum, wie er jetzt eigentlich zu den Engländern stand: waren sie für ihn eigentlich in Ordnung, Menschen wie jeder, nur dass sie eben zur falschen Zeit am falschen Ort waren und sich falsch verhalten haben?

Ich hätte gerne gewusst, wie es zwischen ihnen weitergegangen ist / wäre. Zwischen Qayyum und Vivian. Aber auch mit Najeeb, der den Reif gefunden und wieder verloren hat. Die Menschen im Buch haben bei mir einen so reinen und authentischen Eindruck hinterlassen, dass ich gar nicht anders konnte als sie zu mögen - oder zu verachten, wie sie sich eben verhalten haben. Remmick war da so ein Kandidat für letzters... Aber ich denke, dass die Person eben genau das ausstrahlen sollte. Und damit war es genau richtig.


Der Stil des Buchs war im Übrigen das, was mich am meisten gefesselt hat. Die Autorin hat ein Auge für die kleinsten Details. Alles, was noch so unscheinbar wirkt, wird von ihr aufgegriffen, auch wenn sich das ein oder andere wiederholt. Der Duft der Blumen. Das zerstörte Vogelnest im Ventilator. Der fein gearbeitete Silberreif, der durch Skylax' Hände kreist. Das alles vermittelt ein so lebhaftes Bild, dass ich vor meinem inneren Auge sehen konnte, was vor sich geht. Wie das Leben dort lief. Es werden alle Zusammenhänge zusammengeführt, jede Kleinigkeit findet seinen Zweck. Doch trotzdem ist die Sprache nicht zu blumig, nicht zu überladen. Das hat mir gefallen.

Außerdem fand ich es super, dass sie zwischen unterschiedlichen Erzählarten wechselt. Wir haben zum einen die Erzählung von Skylax zu Beginn, die nicht nur typographisch, sondern auch im Stil von der Geschichte abweicht. Dann haben wir den überlichen Erzähltext, der ganz zentral und in seinem Detailreichtum absolut unübertroffen ist. Und dann haben wir mit Beginn des zweiten Teils eine Ansammlung von Briefen zwischen Najeeb und Qayyum sowie Nayeeb und Vivian, ergänzt um einige Telegramme, als es mit der Ausgrabung ernst zu werden scheint. Gerade letztere unterscheiden sich natürlich massiv vom eigentlichen Erzähltext, sind abgehackter, aber so wie man sie sich vorstellt. Es ist realistisch. Authentisch. Und es war eine gelungene Abwechslung im Text.


Das Cover empfand ich als äußerst passend. Zunächst wusste ich mit dem Titel alleine nichts anzufangen, er wirkte auf mich irgendwie willkürlich. Erst mit der Lektüre habe ich verstanden, was es eigentlich damit auf sich hat. Was er symbolisieren soll. Ein Stück weit verstehe ich auch nicht ganz, was der einzelne Mann auf dem Cover symbolisieren soll, doch sehe ich im Cover viel von Indien. Licht und Farben, die Architektur des Gebäudes... Ich kenne mich mit Indien nicht sehr aus, aber das ganze vermittelt mir ein wenig den Eindruck, wie es dort in noch frühester Morgenstunde sein könnte, wenn die Menschen noch zu Hause in ihren Betten liegen und nur vereinzelt Leute unterwegs sind. Es hat ein wenig etwas verträumtes - und doch ist es irgendwie beängstigend, wenn man den Inhalt des Buches darauf anwendet.



Insgesamt fand ich das Buch bombastisch. Ich habe hier schon viel zu viel erzählt glaube ich - und könnte noch viel mehr davon berichten. Ich war geflashed. Es hat mich mitgerissen und ich konnte nicht genug davon bekommen. Die offenen Fragen stören mich schon gar nicht wirklich. Der rote Faden hat sich unweigerlich durch das ganze Buch gezogen, hat es zusammengehalten. Es war dramatisch - und erleichternd. Trotz der scheinbaren Vorhersehbarkeit bleibt es unvorhersehbar. Ich fand es einfach nur wundervoll und ein kleiner Schatz, von dem ich froh bin, dass ich ihn habe lesen dürfen.
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