„Hören Sie, wir haben alle Hände voll zu tun. Mit echten Verbrechen. Mit tatsächlichen Gräueltaten, ja? Wir können nicht jedes Mal auf die Insel kommen, wenn irgendwelche Ausländer auf der Flucht ertrinken. Die gehen uns nichts an“ (S.12).
23 Jahre saß der 70-jährige Samuel als Dissident im Gefängnis. Ebenso lang arbeitet er nun als Leuchtturmwärter auf einer einsamen Insel in einem nicht näher bezeichneten Land im Süden des afrikanischen Kontinents. Abgesehen von der Crew des Versorgungsschiffes, das alle zwei Wochen anlegt, hat Samuel keinerlei Kontakt zur Außenwelt und lebt mit seinen Hühnern in völliger Isolation.
Eines Tages findet Samuel am Kiesstrand nicht nur ein blaues Ölfass, sondern auch einen – scheinbar – leblosen Mann. Nichts Ungewöhnliches für den Inselbewohner, denn Leichen (es handelt sich dabei vor allem auch ertrunkene Geflüchtete) werden regelmäßig angespült und so hat das Ölfass, das ihn an den „dicken Präsidenten“ aus der Vergangenheit erinnert, für Samuel auch erstmal Vorrang. Doch es stellt sich heraus, dass der Mann noch atmet. Widerwillig und unter größter Anstrengung zieht Samuel ihn auf seiner Schubkarre zu seiner verfallenen Hütte. Er gewährt ihm einen Schlafplatz auf seiner Couch und versorgt ihn, bis der Mann langsam wieder zum Leben erwacht. Vier Tage verbringen die Männer gemeinsam auf der Insel, doch eine gemeinsame Sprache finden sie nicht, sodass sie sich vor allem durch kleinere Gesten verständigen müssen. Diese „Sprachlosigkeit“ führt zunehmend zu Missverständnissen, schürt in Samuel die Gefühle der Engherzigkeit, Feindschaft, Angst und tiefsitzende Ressentiments. Er steigert sich in die paranoide Überzeugung hinein, dass der Mann ihn töten wird.
In der Begegnung mit dem Geflüchteten wird Samuel an seine eigene dunkle Vergangenheit erinnert, in der er sowohl als „Opfer“ als auch „Täter“ agierte. In der Retroperspektive erinnert sich der ältere Mann szenenhaft: an die „Ausmerzung“ von ganzen Dörfern und Familien durch die ehemaligen Kolonisatoren, an die utopischen Träume seines Vaters hinsichtlich der Unabhängigkeitsbewegung, an das Leben in ärmlichen Verhältnissen unter dem grausamen Diktaturregime, an Samuels eigene Rolle im Widerstandskampf, an die grausame Zeit als politischer Häftling und an das sozial marginalisierte Leben nach seiner Freilassung … nicht nur Traumata holen ihn ein; es stellen sich auch sinnstiftende Fragen nach der kollektiven versus individuellen „Schuld“ und den eigenen Fehlbarkeiten. Wird aus dem widersprüchlichen Antihelden schließlich ein „ethisch korrekt“ handelnder Mensch oder bleibt er dem Geflüchteten ein feindlich gesinnter „Wolf“, der es nicht schafft sein gewalttätiges Erbe zu überwinden?
Der Kurzroman von Karen Jennings, der auf zwei Zeitebenen spielt, weist sicherlich Bezüge zur Geschichte Südafrikas auf, doch er ist universell les- und interpretierbar. „Eine Insel“ liest sich prosaistisch schlicht, bildhaft in den Naturbeschreibungen und besticht vor allem in seiner Mehrdeutigkeit sowie Metaphorik. Es handelt sich bei dem Roman, der 2021 auf der Longlist des Booker Prize stand, um eine literarische Allegorie in Bezug auf die Komplexität von (Post-)Kolonialismus und dessen Nachwirkungen. Der Roman setzt sich außerdem kritisch mit Fragen nach Nationalität, Identität, Rassismus, der Angst vor dem vermeintlich „Anderen“, Traumaverarbeitung und dem individuellen sowie gesellschaftspolitischen Umgang mit den Notlagen von Geflüchteten auseinander. Ich vermute, dass die Autorin im Kontext von Unterdrückung, individueller Freiheitseinschränkung und dem Zwang zum Schweigen bewusst auf das Sprechen ihrer Figuren verzichtet hat. Es ist etwas schade, dass auch der geflüchtete Mann im Roman keine eigene Stimme bzw. Erzählperspektive erhält und der Fokus primär auf Samuel liegt. Davon abgesehen, ein äußerst lesenswerter Roman, der viel mehr Aufmerksamkeit verdient hat. Das Ende ist verstörend - doch folgt es erzählerisch und in seiner Botschaft einer inneren Logik – und lässt mich als Leserin äußerst nachdenklich zurück. Übersetzt aus dem Englischen von Regina Rawlinson.