Cover des Buches Wir haben Raketen geangelt (ISBN: 9783446246027)
progues avatar
Rezension zu Wir haben Raketen geangelt von Karen Köhler

Raketen geangelt und Leser gefangen

von progue vor 10 Jahren

Kurzmeinung: Knapp. Harsch. Lakonisch. Melancholisch. Cool.

Rezension

progues avatar
proguevor 10 Jahren
Als ich heute morgen das Buch aufschlug, fand ich auf der Inhaltsangabenseite eine erschlagene, gepresste Eintagsfliege vor. Die morbide Ironie entging mir nicht - handeln doch alle Geschichten in dieser KG-Sammlung in dieser oder jener Form vom Tod. Und der Tod einer Eintagsfliege erscheint geradezu passend in seiner Tragik - irgendwo lacht jetzt eine höhere Macht über diesen Nonsens, den ich hier schreibe, also beschäftige ich mich lieber mit dem Inhalt des Buches.

Karen Köhler hat hier eine Lektüre abgeliefert, die in ihrer melancholischen, lakonischen Art fasziniert und fesselt, selbst wenn man mit einigen Geschichten bzw. deren Protagonisten nichts anfangen kann. Ihre Sprache ist klar und kalt wie ein Januarmorgen an der See. Ich fand mich gefangen in der Art ihrer Erzählungen, von denen es neun gibt:

Il Commandante: Eine junge Frau mit Krebs in einem Krankenhaus. Ihr Freund meldet sich nicht, ihr Arzt macht keine Ausflüchte und der siebzigjährige Il Commandante ist froh, sie getroffen zu haben, bevor sie stirbt und über die Banana Splits, die im Krankenhauscafé serviert werden. Platz 3 meiner persönlichen Top-3-Liste.

Cowboys und Indianer: Mitten in der Wüste sitzt eine junge Frau, die völlig ausgedörrt ist von Wassermangel und Erschöpfung. Ein Indianer rettet sie; gemeinsam begeben sie sich auf einen Roadtrip zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Weder ist der Indianer ein nobel savage noch ist sie eine damsel in distress, und so können sie sich gegenseitig unterstützen, wenn es ernst wird. Wunderbare Charakterzeichnungen - gleichzeitiges Nehmen und Wiedergeben des Glaubens an die Menschheit. Platz 1.

Polarkreis: Eine Geschichte erzählt in Karten, die aus Italien geschickt werden. Kurz, knapp, fast banal und doch fesselnd.

Name. Tier. Beruf.: Wieder einmal das Vermengen von Vergangenheit und Gegenwart. Nach 15 Jahren trifft eine Frau wieder auf einen Mann, der ihre erste große Liebe war. Sie enthüllt ihm, was passiert ist, als er ging. Unglaublicher Stil, wenn über ihn erzählt wird, dann immer mit "Du".

Wir haben Raketen geangelt: Gedanken- und Erinnerungsschnipsel aus dem Leben zweier Freunde, Mann und Frau. Mehr als "nur" Freunde, weniger als (körperlich) "Liebende", obwohl die Liebe spürbar ist. Mit einem heftigen Twist am Ende.

Familienportraits: sechs Schicksale, sechs Menschen, sechs völlig unterschiedliche Charaktere, eine Gemeinsamkeit - Hoffnungslosigkeit und Unverständnis ihrer Mitmenschen. Keine leichte Kost.

Starcode Red: Eine Frau auf der Flucht vor sich selbst. Arbeitet auf einem Kreuzfahrtsschiff und bemüht sich, ihren Erinnerungen davonzulaufen. Unterhaltungen mit Kollegen, Passagieren und Möwen inklusive. Großes Kino, Platz 2.

Wild ist scheu: Die Geschichte, mit der ich am wenigsten anfangen konnte. Nicht, weil sie so schlecht geschrieben wäre (schlecht geschriebene Geschichten finden sich in diesem Buch ohnehin nicht), sondern weil mir die Handlung der Protagonistin völlig fremd und unverständlich war. Erschütternd.

Findling: Eine auf primitivste Verhältnisse zurückgeworfene Frau erzählt aus ihrem Leben. Einfache, klare Sprache, tragische und traurige Verhältnisse. Bewegend.

Fazit: Eine Sammlung von Kurzgeschichten, wie ich sie in ihrer lakonischen, stringenten Form nie zuvor gelesen habe. Außergewöhnliche Sprache, außergewöhnlich erzählt.
Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks