Cover des Buches Scham (ISBN: 9783499241963)
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Rezension zu Scham von Karin Alvtegen

Rezension zu "Scham" von Karin Alvtegen

von WinfriedStanzick vor 13 Jahren

Rezension

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WinfriedStanzickvor 13 Jahren
Karin Alvtegen hat in den vergangenen Jahren mit ihren drei bisher erschienenen Büchern auf dem Markt der Psychothriller Maßstäbe gesetzt. Als ehemalige Krankenschwester in der Psychiatrie (die Angabe dieser früheren beruflichen Tätigkeit fehlt beim neuen Buch im Klappentext) hat sie einen großen Erfahrungsschatz gesammelt über die Abgründe der menschlichen Seele. Und so werden die Personen in ihren Büchern auch nicht denunziert oder abgestempelt, sondern Alvtegen beschreibt ihr seelisches Leid, benennt seinen biographischen und herkunftsfamiliären Ursprung oder deutet ihn zumindest an und lässt den Leser mitfühlen. Wenn man ihre Bücher liest, kommt einem mehr als einmal der Gedanke, auf welch brüchigem Pfad der Existenz man selbst geht, wie dünn das doch angeblich so feste und tragfähige Eis der eigenen Lebenswirklichkeit ist. Und daß all dies von einer Sekunde auf die andere vorbei sein kann, und das bisher so souverän gelebte Leben vorbei ist. In ihrem neuen, genial komponierten Roman „Scham“ ergründet sie mit Hilfe ihrer beiden weiblichen Hauptfiguren die Bodenlosigkeit und den Abgrund von Schuld, ob sie nun religiös hergeleitet und gedeutet wird oder nicht. Ihre Wirkung auf die betroffenen Personen ist in beiden Fällen mächtig und zerstörerisch. Und außer der Liebe ist ihr nichts gewachsen. Doch die liegt für einen „schuldigen“ Menschen so weit außerhalb seiner Vorstellungs- und Erlebenskraft, daß er einen Ausbruch oder gar eine Freilassung aus seinem Schuldgefängnis nicht für möglich hält. Monika Lundvall ist Ende 30, erfolgreiche Chefärztin, die ihre Gefühle mit Arbeit betäubt. In einer Fortbildung erzählt sie, verführt durch entsprechende Methoden des Seminarleiters, ihre Geschichte: sie hat bei einer Party durch ihre Nachlässigkeit und Bequemlichkeit den Feuertod ihres Bruders verschuldet, und bisher über die wahren Vorfälle damals alle, hauptsächlich aber ihre Mutter, belogen. Sie lernt dort auf diesem Führungsseminar Matthias und Ase kennen, und es ergibt sich, daß Monika mit Matthias für die Heimfahrt den Platz tauscht, um rechtzeitig mit ihrer Mutter ihren wöchentlichen, quälenden Besuch am Grab des verbrannten Bruders zu machen. Ase verunglückt, Matthias auf dem Beifahrersitz wird in Stücke gerissen. Zu mächtig war die rechte Seite des Autos mit einem kapitalen Elch kollidiert. Mai-Britt, Mitte 50, und, wie sich später herausstellt, Nachbarin von Matthias’ Familie, trägt schon viel länger an ihrer Schuld. Aufgewachsen in einem streng religiösen, ja dogmatischen Elternhaus quält sie sich mit der Schuld der „Selbstbefleckung“, seit sie zusammen mit ihrer Freundin Vanja bei Doktorspielen erwischt wurde. Sie wird, mitten in der Pubertät, quasi exorzistisch behandelt, aber sie wird ihre Schuld nicht los. „Sie hatte gebetet und gebetet, aber niemals ihren Glauben teilen dürfen, Gott hatte ihre Gebet nicht gewollt. Sie hatte alles aufgegeben, um ihren Gehorsam zu zeigen und von seiner Liebe umfangen zu werden, aber Er hatte niemals geantwortet. Niemals mit einem einzigen Wort, einem einzigen Zeichen zu erkennen gegeben, daß Er zuhörte, daß Er ihren Kampf und ihr Opfer anerkannte. Er schwieg sie zu Tode, weil sie es nicht wert war. Er hatte sie abgewiesen und sie einsam mit ihren schmutzigen Gedanken zurückgelassen.“ (S.80) Und so frisst sie sich regelrecht zu, wird vom Sozialdienst betreut und hat seit 25 Jahren nicht ihre Wohnung verlassen, die sie bezogen hatte, nachdem auch sie eine zweite Schuld auf sich geladen hatte, indem sie wissentlich ihre blinde Tochter zu Tode stürzen ließ. Als ihre Freundin Vanja Tyren beginnt, ihr aus dem Gefängnis ( sie hat 30 Jahre zuvor ihre Familie ausgelöscht – Schuld !!) Briefe zu schreiben, gerät alles aus ihren starren Lebensfugen. Und es fügt sich, daß sich beide Frauen, Monika und Maj-Britt begegnen ... Mehr soll nicht verraten werden. Auch im neuen Buch schreibt Karin Alvtegen genial, spannend und, wie ich hinzufügen möchte, zutiefst menschlich. Der Leser leidet mit den Figuren, er hält mit jeder Seite mehr den Atem an, wohin sich diese fruchtbare Schuldspirale entwickelt. Und man macht sich so seine Gedanken, über Schuld und Vergebung, und was eine recht und menschlich verstandene jüdisch-christliche Überlieferung in Sachen Schuld und Vergebung zu leisten imstande wäre, würde sie nur richtig vermittelt – für die Menschen und nicht gegen sie.
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