Cover des Buches Spielen (ISBN: 9783630874128)
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Rezension zu Spielen von Karl Ove Knausgård

Kindheit eines Außenseiters

von Gospelsinger vor 10 Jahren

Rezension

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Gospelsingervor 10 Jahren
„Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe im Leben, aus dem einfachen Grund, dass für das Gedächtnis nicht die Wahrheit am wichtigsten ist. Niemals ist der Wahrheitsanspruch entscheidend dafür, ob das Gedächtnis ein Ereignis richtig oder falsch wiedergibt. Entscheidend ist der Eigennutz.“

Umso schwieriger ist es, sich an die eigene Kindheit zu erinnern. Im Gedächtnis bleiben meist nur einzelne Episoden und generelle Gefühle, wie zum Beispiel Angst.

Letzteres wird wohl der Grund sein, warum Karl Ove Knausgård sich so genau an seine Kindheit erinnern kann. Denn sie war geprägt von der Angst vor dem Vater, wie schon im ersten Band des auf sechs Bände angelegten autobiografischen Projekts zu lesen war.

Als Kind war Karl Ove dem Vater völlig ausgeliefert. Einem Vater, der irrsinnige Regeln aufstellte, die streng befolgt werden mussten. Es durfte niemand mit nach Hause gebracht werden, im Haus durfte man sich nicht schnell bewegen, selbst der Ablauf des Essens war streng reglementiert, kurz, es herrschte eine ständige Kontrolle, und Verstöße hatten übermäßig harte Auswirkungen. Das Familienleben war völlig anders als das der Nachbarsfamilien. Eine schöne Kindheit war es nicht.

Karl Oves Alltag war ein ständiges Flüchten vor den Launen und vor allem vor der Wut des Vaters. Das ging so weit, dass er einmal in Anwesenheit des Vaters eine Schüssel Cornflakes mit sauer gewordener Milch ganz aufaß. Er traute sich einfach nicht, etwas zu sagen.

Eine im Schwimmbad verlorene Socke kam da einer Katastrophe gleich. „Und was meinst du eigentlich, wie viel Geld wir haben? Denkst Du, wir können es uns leisten, dass du deine Kleider verlierst?“, schrie der Vater und verbot weitere Schwimmbadbesuche. Kurz darauf kaufte er für sich selbst eine neue Skiausrüstung und ein Boot.
Obwohl es zwischendurch Momente gab, in denen der Vater andere Seiten zeigte, war er insgesamt gesehen völlig ichbezogen, tyrannisch, manipulativ und egoistisch.

Weit weniger präsent in den Erinnerungen ist die Mutter, ein Umstand, den Karl Ove Knausgård sich selbst nicht erklären kann. Dabei ist er sich sehr bewusst, wie wichtig die Mutter für sein Leben war, und zwar nicht nur, weil sie all das für ihre Söhne tat, was Mütter eben so tun. Nein, sie tat noch mehr.

„Sie rettete mich, denn wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich alleine mit Vater aufwachsen müssen, und dann hätte ich mir früher oder später auf irgendeine Weise das Leben genommen.“

Seine Mutter war es auch, die ihn mit einem Trick zum Lesen gebracht hat. Ab diesem Moment hat Karl Ove Knausgård alles gelesen, was ihm in die Finger kam.

Dazu gab es genügend Zeit, denn eine Kindheit in den 70er Jahren war völlig anders als heutzutage. Man spielte den ganzen Tag über draußen, hatte die Eltern nicht ständig im Nacken und musste nicht erst im Terminkalender suchen, wenn man Freunde treffen wollte.
Ein nennenswertes Fernsehprogramm und technische Spielereien gab es noch nicht.

Man könnte sich an Bullerbü erinnert fühlen, so viel ist von den gemeinsamen Unternehmungen und Entdeckungen der Kinder die Rede.
Wie schon in den anderen Bänden beschreibt Karl Ove Knausgård dabei auch peinliche Situationen. Da geht es um Vorhäute, es wird gemeinsam im Wald gekackt, man sieht sich Pornohefte an, es kommt zu schmerzhafte Begegnungen zwischen Penis und Flaschenhals, und zu den anscheinend unvermeidbaren Penisvergleichen in der Dusche. Die ersten Erfahrungen mit Mädchen verlaufen, freundlich ausgedrückt, suboptimal, und der erste Kuss ist eine Katastrophe. Genau wie die erste Badekappe, die seine Mutter ihm gekauft hat – mit Blümchenmuster.
Es gibt viele schreiend komische Szenen in diesem Buch.

Aber das Zusammensein mit den anderen Kindern ist nicht nur unbeschwert, denn Karl Ove ist ein Außenseiter. Er weint leicht, interessiert sich für Kleidung und wirkt irgendwie mädchenhaft. Und dann ist er auch noch gut in der Schule und versteckt das nicht. Zusammengenommen macht ihn das unbeliebt.

Auch diese Kindheitserinnerungen sind also getrübt. Aber wäre das überhaupt anders zu erwarten, wenn ein Kind so aufwachsen muss, wie der Autor unter der Knute seines Vaters? Eine derartige Erfahrung muss einfach alles andere überschatten.

Wie schon beim Lesen der ersten beiden Bände, „Sterben“ und „Lieben“, habe ich auch diesmal gemerkt, dass ich Einiges mit dem Autor gemeinsam habe.
Ich denke, genau das ist es, was diese Bücher so reizvoll macht. Man kann die eigenen Erinnerungen, Gefühle, Erfahrungen und den eigenen Alltag darin wiederfinden, denn Karl Ove Knausgård beschreibt nicht mehr als das tägliche Leben und damit nicht weniger als das Leben selbst. Und das macht er intelligent und mit einem wunderbaren Schreibstil.
Ich konnte keinen der drei Bände aus der Hand legen; es sind Bücher, in denen ich mich völlig verlieren kann und beim Lesen meine Umgebung völlig ausblende.

Schade, dass dieser faszinierende Autor in diesem Jahr nicht zu einer Lesereise nach Deutschland kommt. Dafür erscheint der nächste Band, „Leben“, schon im Juni 2014.
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