"Was für ein Typ Frau bin ich?" Diese Frage stellte man sich im 19. Jahrhundert nicht. Edna Pontellier, Heldin dieses Romans tut es dennoch. Auf Grand Isle, einem Badeort in Louisiana, wo sie mit ihrem Mann, ihren zwei Kindern und wohlhabenden Familien aus New Orleans die Ferien verbringt, spürt sie mehr denn je, dass sie anders ist als die übrigen Frauen, die sich nur über die Rolle der Mutter, Ehefrau und Gastgeberin definieren. Verstärkt werden ihre Selbstzweifel durch den Sohn der Pensionswirtin Robert Lebrun, der in ihr zum ersten Mal das Gefühl des Begehrens weckt.
Edna erkennt immer deutlicher ihre Beziehung als Individuum zur Welt und wird empfänglicher für Impulse außerhalb ihres Heims. Sie legt ihre stillschweigende Unterwürfigkeit gegenüber ihrem Mann ab, sagt offen, was sie denkt, verstößt gegen gesellschaftliche Regeln und gibt sich immer mehr dem Rausch des Lebens hin. Die Art und Weise, wie ihre Selbstfindung geschildert wird, ist ein literarisches und dramaturgisches Kunstwerk. Kate Chopin verwendet viele doppeldeutigen Symbole, die Ednas Innenleben nach außen spiegeln. Auf Grand Isle lernt sie schwimmen, ein Bild für ihr Freiheitsgefühl und ihre Unabhängigkeit; später wird sie gewarnt, dass sie starke Flügel braucht, um dem goldenen Käfig zu entfliehen.
Interessant fand ich den Kontrast zwischen ihrer eigenen Wahrnehmung und die der anderen: Sie spürt, wie sie immer mehr sie selbst wird, während ihr Mann klagt, dass sie nicht mehr sie selbst ist. Edna scheint das zu tun, was manch andere Frau sich insgeheim wünscht, aber nicht einmal traut, es auszusprechen, geschweige denn, es in die Tat umzusetzen. Ganz typisch reagiert der Arzt der Familie, der Ednas anstößiges Verhalten als vorübergehende Laune abtut.
So vieles an dieser Geschichte hat mich im Innersten berührt: die Figur der mutigen Edna und ihre Versuche, sich von gesellschaftlichen Verpflichtungen zu befreien und sich ein eigenes Leben als Malerin aufzubauen, Kate Chopins zauberhafte Sprache und die authentische Schilderung der Gepflogenheiten in der feinen kreolischen Gesellschaft. Ich wünsche diesem Klassiker, der in überarbeiteter Übersetzung und edler Neuausgabe erschienen ist, viele Leserinnen und Leser.