Cover des Buches Das Narrenschiff (ISBN: 9783717522201)
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Rezension zu Das Narrenschiff von Katherine Anne Porter

Rezension zu "Das Narrenschiff" von Katherine Anne Porter

von Gospelsinger vor 13 Jahren

Rezension

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Gospelsingervor 13 Jahren
Ein Schiff der Norddeutschen Loyd legt am 22. August 1931 in Veracruz ab, um über Kuba und die Kanarischen Inseln nach Bremerhaven zu fahren. An Bord könnten die Unterschiede nicht größer sein. Während auf dem Oberdeck keine hundert Passagiere einen unglaublichen Luxus genießen, sind auf dem Unterdeck 800 spanische Auswanderer zusammengepfercht, die wieder zurück nach Spanien und somit in die Armut und Hoffnungslosigkeit verfrachtet werden. Daneben bevölkern noch die Mannschaft und der menschenverachtende deutsche Kapitän das Schiff. Was auf dieser fast einmonatigen Reise an Bord geschieht, hat nicht das Geringste mit der Romantik eines Traumschiffs zu tun, nicht einmal auf dem Oberdeck. Stattdessen beginnt eine Abfolge von Intrigen und Lügen, getragen von Gier und Selbstmitleid. Feindschaften entstehen, antisemitische Ressentiments und das Überlegenheitsdenken der Deutschen brechen hervor, die Arroganz der Reichen gegenüber den Armen tritt ungehindert zutage. Diese steigert sich hin bis zum Hass gegen Arme, die man mindestens vertreiben, am liebsten aber gleich durch Bevölkerungspolitik verhindern oder durch Eugenik vernichten will. Auch die Rolle der Frau in der Gesellschaft und politische Verfolgung sind Themen dieses Gesellschaftsromans. Fasziniert hat mich, wie gefesselt ich von einem Buch war, dessen Charaktere fast durchweg unsympathisch sind. Die ganze Bandbreite menschlichen Verhaltens und vor allem menschlicher Abgründe ist vorhanden. Diese Bandbreite spiegelt sich auch in der Anzahl der handelnden Personen wieder. Ich war jedenfalls sehr dankbar für das dem Roman vorangestellte ausführliche Personenverzeichnis. So konnte ich die Charaktere leichter auseinanderhalten. Um nur einige zu nennen: Elsa, eine Pubertierende, die wie alle Pubertierenden unzufrieden mit ihrem Körper ist, der bucklige Herr Glocken, der jüdische Fabrikant Löwenthal, der so unsympathisch gezeichnet ist, wie man das heute auf keinen Fall tun dürfte, ein amerikanisches Künstlerpärchen, das ständig zwischen Liebe und Hass hin und her pendelt, das deutsche Ehepaar Hutten, das ihre Bulldogge Bebe wie ein Kind behandelt, den todkranken Willi Graf, der seinen Neffen ausnutzt, den Schiffsarzt Dr. Schumann, der sich in eine drogensüchtige Aristokratin verliebt, die spanische Musik- und Theatergruppe, die zur Eskalation der Konflikte an Bord munter beiträgt. Denn der ganze Hass, der sich auf der Überfahrt bei den Handelnden so ansammelt, bricht sich am Ende vehement Bahn. Zwanzig Jahre hat Katherine Anne Porter an diesem großen Roman geschrieben, und ihre Mühe hat sich gelohnt. Herausgekommen ist ein Meisterwerk, das in der gleichen Liga wie „Der Zauberberg“ spielt. Genau wie beim „Zauberberg“ haben wir auch hier mit einer Situation der Abgeschlossenheit zu tun, die verschiedene Gesellschaftsschichten auf engem Raum zusammenbringt, und auch hier findet das Geschehen kurz vor einem Weltkrieg statt. Dass Katherine Anne Porter für das Schreiben dieses Werkes der Weltliteratur so lange gebraucht hat, wird wohl daran liegen, dass sie als Frau leider keine Ehefrau hatte, die ihr den Rücken freihält, damit sie in Ruhe schreiben kann. Männer hatten und haben es da besser. Dieses einfach nur großartige Buch hat seinen Ehrenplatz auf meinem Lieblingsbuchregal gefunden.
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