Rezension zu Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie von Katherine Dunn
Normal ist langweilig?
von alasca
Kurzmeinung: Ein Buch, das unser Wertekonstrukt auf den Prüfstand stellt. Geschmacklos, abstoßend, faszinierend.
Rezension
alascavor 10 Jahren
Normal ist langweilig?!
Ich muss gestehen, ich begann die Lektüre dieses Romans mit Skepsis. All das enthusiastische Lob, das Etikett „Kult“ und so weiter weckten eher meinen Widerspruchsgeist. Aber dann hatte Katherine Dunn mich doch am Haken …
Das Setting ist originell und krude zugleich: Al und Lily Binewski sind Zirkusleute mit den typischen Akrobaten und Tieren plus einer einträglichen Freak-/Monstrositätenshow. Als einige ihrer „Künstler“ sie unvermittelt verlassen, was empfindliche Umsatzeinbußen zur Folge hat, beschließen sie, ihre eigenen Freaks für die Show zu züchten. Denn „Was könnte man seinen Kindern für ein schöneres Geschenk machen, als die ureigene Fähigkeit, ihren Lebensunterhalt nur dadurch zu verdienen, dass sie einfach nur sie selbst sind?“ Durch eine Reihe von Experimenten mit diversen Drogen, Insektiziden und Radioisotopen während Lilys Schwangerschaften entstehen Arturo (Arty), der bein- und armlose Fischjunge, Elly und Iphy, die siamesischen Zwillinge, Olivia (Oly), die bucklige Albino-Zwergin mit Samtstimme, und Fortunato (Chick), der Jüngste, der sich nach anfänglicher Enttäuschung als größter Zuchterfolg seiner Eltern entpuppt.
Erzählt wird auf zwei Zeitebenen aus der Sicht von Oly: Es gibt die „Jetztzeitnotizen“ und die Rückblenden in die Vergangenheit. In der Gegenwart leben nur noch Lily, Oly und Miranda, alle im selben Appartmenthaus; Lily hat vergessen, dass Oly ihre Tochter ist, und Miranda weiß nicht, dass sie Olys Tochter ist. Wie es dazu kam, wird nach und nach in den Rückblenden erzählt, was beträchtliche Spannung erzeugt. In der Jetztzeit verdient Miranda sich ihr Studium durch Strippen in einer Bar, die auf Freaks spezialisiert ist. Mirandas Spezialität: Ihr Rückgrat endet nicht mit dem Steiß, sondern läuft in einem elegant gerollten Schwanz aus …
Wem das schon reichlich abseitig vorkommt, der sei gewarnt: Das ist noch gar nichts. Der Roman strotzt nur so vor abstrusen Einfällen. Jedes Mal, wenn ich dachte, DAS ist nun wirklich nicht zu toppen, hat Ms Dunn ganz locker eins draufgesetzt. Ich verspürte bei der Lektüre permanent eine Mischung aus Unbehagen und Faszination und befand mich ständig in einer Art von „trotzdem“. Die Phantasie der Autorin erschien mir ... krank. Oder genial? Sehr bald habe ich gelesen, wie ich manche Horrorfilme gucke: Quasi durch die gespreizte Hand vor meinen Augen ...
Sprachlich ist der Roman sehr überzeugend und atmosphärisch und entwickelt auch aus den Figuren heraus beträchtlichen Sog. Dunns Sprache, ihre Bilder sind originell und expressiv und zeichnen die verquere Welt der Binewskis mit sicherem Strich; die Psychologie der Figuren ist glaubwürdig, vor allem die vollkommene Umkehr "normaler" Reaktionen; etwa, dass Lily deprimiert ist, weil ihr neugeborenes Kind normal aussieht, oder Artys Eifersucht auf alle, die ihm als Freak den Rang ablaufen könnten. Das Schicksal von Chick wiederum ist so anrührend, so schrecklich, dass man ihn am liebsten adoptieren würde … Auch die Nebenfiguren sind gelungen. Der zynische Journalist Norval Sanderson zum Beispiel dient Dunn als Stimme für ihre Gesellschaftsanalysen: „Wir schaffen uns einen Anführer, indem wir uns jemanden in der Menge suchen, der steht. (...) Diesem Opfer dichten wir allein dadurch Standfestigkeit an, dass wir uns alle um ihn herum hinsetzen." Und mit dem Beutelmenschen gelingt ihr ein derart böses Porträt des intoleranten Normalbürgers, dass es einem den Magen umdreht.
Warum aber hat das Buch mich eigentlich fortlaufend schockiert? War ich nicht immer schon der Meinung „Normal ist langweilig“? Nein, war ich offenbar doch nicht, und Ms Dunn führt mir das klar vor Augen. Ihr Roman verkehrt das gewohnte Wertegefälle. In Dunns Kosmos ist eine Missgeburt nicht bedauernswert, sondern den „Normalen“ haushoch überlegen. Alles scheint auf den Kopf gestellt, nicht nur das Schönheitsideal und nicht nur die Definition von Normal und Besonders. Sondern alle bürgerlichen Werte, auch der Begriff von elterlicher Fürsorge und Verantwortung. Es ist geschmacklos, abstoßend und faszinierend, und es macht mir klar, wie viele Werte und Normen ich offenbar kritiklos internalisiert habe, ohne das auch nur zu bemerken. Das Erschreckende ist: Die Moral der Binewskis ist in sich absolut schlüssig - was zeigt, dass auch unsere nichts als ein Konstrukt ist. Die Botschaft des Romans: Jede Moral ist Willkür. Sie funktioniert nur deshalb, weil alle sie für die einzige halten.
Die Geschichte endet in einem doppelten Showdown; einmal in der Vergangenheit, als dramatischer Tusch, und einmal in der erzählerischen Gegenwart, nicht ganz so zirzensisch, aber dafür umso erschütternder.
Dieser Roman ist nichts für literarische Warmduscher ... los, trau dich, lass dich schocken! ;-)
Ich muss gestehen, ich begann die Lektüre dieses Romans mit Skepsis. All das enthusiastische Lob, das Etikett „Kult“ und so weiter weckten eher meinen Widerspruchsgeist. Aber dann hatte Katherine Dunn mich doch am Haken …
Das Setting ist originell und krude zugleich: Al und Lily Binewski sind Zirkusleute mit den typischen Akrobaten und Tieren plus einer einträglichen Freak-/Monstrositätenshow. Als einige ihrer „Künstler“ sie unvermittelt verlassen, was empfindliche Umsatzeinbußen zur Folge hat, beschließen sie, ihre eigenen Freaks für die Show zu züchten. Denn „Was könnte man seinen Kindern für ein schöneres Geschenk machen, als die ureigene Fähigkeit, ihren Lebensunterhalt nur dadurch zu verdienen, dass sie einfach nur sie selbst sind?“ Durch eine Reihe von Experimenten mit diversen Drogen, Insektiziden und Radioisotopen während Lilys Schwangerschaften entstehen Arturo (Arty), der bein- und armlose Fischjunge, Elly und Iphy, die siamesischen Zwillinge, Olivia (Oly), die bucklige Albino-Zwergin mit Samtstimme, und Fortunato (Chick), der Jüngste, der sich nach anfänglicher Enttäuschung als größter Zuchterfolg seiner Eltern entpuppt.
Erzählt wird auf zwei Zeitebenen aus der Sicht von Oly: Es gibt die „Jetztzeitnotizen“ und die Rückblenden in die Vergangenheit. In der Gegenwart leben nur noch Lily, Oly und Miranda, alle im selben Appartmenthaus; Lily hat vergessen, dass Oly ihre Tochter ist, und Miranda weiß nicht, dass sie Olys Tochter ist. Wie es dazu kam, wird nach und nach in den Rückblenden erzählt, was beträchtliche Spannung erzeugt. In der Jetztzeit verdient Miranda sich ihr Studium durch Strippen in einer Bar, die auf Freaks spezialisiert ist. Mirandas Spezialität: Ihr Rückgrat endet nicht mit dem Steiß, sondern läuft in einem elegant gerollten Schwanz aus …
Wem das schon reichlich abseitig vorkommt, der sei gewarnt: Das ist noch gar nichts. Der Roman strotzt nur so vor abstrusen Einfällen. Jedes Mal, wenn ich dachte, DAS ist nun wirklich nicht zu toppen, hat Ms Dunn ganz locker eins draufgesetzt. Ich verspürte bei der Lektüre permanent eine Mischung aus Unbehagen und Faszination und befand mich ständig in einer Art von „trotzdem“. Die Phantasie der Autorin erschien mir ... krank. Oder genial? Sehr bald habe ich gelesen, wie ich manche Horrorfilme gucke: Quasi durch die gespreizte Hand vor meinen Augen ...
Sprachlich ist der Roman sehr überzeugend und atmosphärisch und entwickelt auch aus den Figuren heraus beträchtlichen Sog. Dunns Sprache, ihre Bilder sind originell und expressiv und zeichnen die verquere Welt der Binewskis mit sicherem Strich; die Psychologie der Figuren ist glaubwürdig, vor allem die vollkommene Umkehr "normaler" Reaktionen; etwa, dass Lily deprimiert ist, weil ihr neugeborenes Kind normal aussieht, oder Artys Eifersucht auf alle, die ihm als Freak den Rang ablaufen könnten. Das Schicksal von Chick wiederum ist so anrührend, so schrecklich, dass man ihn am liebsten adoptieren würde … Auch die Nebenfiguren sind gelungen. Der zynische Journalist Norval Sanderson zum Beispiel dient Dunn als Stimme für ihre Gesellschaftsanalysen: „Wir schaffen uns einen Anführer, indem wir uns jemanden in der Menge suchen, der steht. (...) Diesem Opfer dichten wir allein dadurch Standfestigkeit an, dass wir uns alle um ihn herum hinsetzen." Und mit dem Beutelmenschen gelingt ihr ein derart böses Porträt des intoleranten Normalbürgers, dass es einem den Magen umdreht.
Warum aber hat das Buch mich eigentlich fortlaufend schockiert? War ich nicht immer schon der Meinung „Normal ist langweilig“? Nein, war ich offenbar doch nicht, und Ms Dunn führt mir das klar vor Augen. Ihr Roman verkehrt das gewohnte Wertegefälle. In Dunns Kosmos ist eine Missgeburt nicht bedauernswert, sondern den „Normalen“ haushoch überlegen. Alles scheint auf den Kopf gestellt, nicht nur das Schönheitsideal und nicht nur die Definition von Normal und Besonders. Sondern alle bürgerlichen Werte, auch der Begriff von elterlicher Fürsorge und Verantwortung. Es ist geschmacklos, abstoßend und faszinierend, und es macht mir klar, wie viele Werte und Normen ich offenbar kritiklos internalisiert habe, ohne das auch nur zu bemerken. Das Erschreckende ist: Die Moral der Binewskis ist in sich absolut schlüssig - was zeigt, dass auch unsere nichts als ein Konstrukt ist. Die Botschaft des Romans: Jede Moral ist Willkür. Sie funktioniert nur deshalb, weil alle sie für die einzige halten.
Die Geschichte endet in einem doppelten Showdown; einmal in der Vergangenheit, als dramatischer Tusch, und einmal in der erzählerischen Gegenwart, nicht ganz so zirzensisch, aber dafür umso erschütternder.
Dieser Roman ist nichts für literarische Warmduscher ... los, trau dich, lass dich schocken! ;-)