Rezension zu "Die Aloe" von Katherine Mansfield
Ich habe von Katherine Mansfield zwar schon oft gehört, doch gelesen hatte ich von ihr bisher noch nichts. Bei einem Literaturabend wurde "Die Aloe" von ihr vorgestellt und ich kaufte und las gleich am nächsten Tag den schmalen, schön gebundenen Band mit Lesebändchen aus dem Steidl Verlag. Vor der Lektüre beschäftigte ich mich - dank Internetrecherche - erst noch ausführlich mit der Person Katherine Mansfield. Sie war eine Neuseeländische Schriftstellerin lebte von 1888 bis 1923, dabei auch einige Jahre in London. Sie war ein außergewöhnliches Schreibtalent und eine unangepasste Person, der nur ein kurzes Dasein vergönnt war, bevor sie mit 34 Jahren an Lungentuberkulose starb. Ein schlimme Zäsur in ihrem Leben war der Tod ihres geliebten jüngeren Bruders Leslie gleich zu Beginn des ersten Weltkriegs, der eine Todessehnsucht in ihr auslöste. Sie zog zurück nach Neuseeland und widmete sich seinem Andenken und ihren eigenen Wurzeln in ihren Geschichten. Aloe schrieb sie 1917.
Ich rate sehr, vor der Lektüre zunächst das Nachwort des Verlegers Andreas Nohl zu lesen. Es dient sehr dem Verständnis der Erzählung. Ohne dieses Wissen ist es anfänglich schwer, die Personen im Haushalt der Familie Burnrell zuzuordnen und einzuschätzen. Die Familie Burnell ist ein Spiegel der elterlichen Familie von Katherine Mansfield, wie ich im Nachwort erfahren habe. Die kleine Kezia das Alter Ego von Katherine.
Es ist nicht leicht, den Inhalt in Worte zu fassen. Ich fand den Klappentext nicht ganze zutreffend. Für mich hatte die Aloe für die Kinder keine Bedeutung. Witzig, dass es sich gar nicht um eine Aloe handeln kann. Denn nach der Beschreibung der Pflanze und der Aussage, dass sie nur alle einhundert Jahre blüht, handelt es sich in dem Buch um eine Agave.
Aber das hat meinen Lesegenuss nicht geschmälert. Obwohl die Handlung, die Gesellschaft, die Umgebung, das neue Haus, in dem alles bildhaft beschrieben ist, aus der Zeit von Anfang 1900 stammt (hinten im Anhang werden Begriffe wie "Kastenottomane", "Wurmschokolade", "Foulardkleid", "Eau-de-Nil-farbenener Satin", usw. erklärt), wirkt es ungeheuer modern und zeitgemäß. Die Sätze darin sind von atemberaubender Schönheit und Ausdrucksstärke.
Hier ein Beispiel von Seite 34:
"Die Dinge pflegten in der Stille gerne lebendig zu werden, das hatte sie schon oft bemerkt. Nicht nur große, massive Dinge wie Möbel, sondern auch Vorhänge und Stoffmuster und die Fransen von Decken und Kissen. Wie oft hatte sie erlebt, dass sich die Quastenborte an ihrer Steppdecke in eine lustige Prozession von Tänzerinnen verwandelte, der auch die Priester beiwohnten. Denn ein paar Quasten waren dabei, die tanzten überhaupt nicht, sondern schritten feierlich einher, vornübergebeugt, als beteten oder psalmodierten sie ... Wie oft hatten die Medizinflaschen sich in eine Reihe kleiner Männer mit braunen Zylindern verwandelt, und häufig saß die Wasserkanne in der Waschschüssel wie ein dicker Vogel in einem runden Nest."
Virginia Woolf notierte in ihr Tagebuch: "Katherine Mansfield schrieb die einzige Prosa, auf die ich je eifersüchtig war." Das kann ich gut verstehen.