Rezension zu "Der vierte Mond" von Kathleen Weise
Vorab und um die folgende Kritik richtig einzuordnen und die Autorin zu schützen zum Geleit: Wer einen eskapistischen Roman lesen möchte und nur geringe Ansprüche an Glaubwürdigkeit, Logik und den Science-Aspekt der Fiction hat, kann hier einen sehr unterhaltsamen Near-Future-Thriller lesen und braucht die Rezension nicht weiter beachten. Unterhaltsame vier Sterne wären es wohl. Allerdings ist Kathleen Weises „Der vierte Mond“ ein sehr ambivalentes Lesevergnügen. Das liegt vor allem an enttäuschten Erwartungen, für die die Autorin nur teilweise verantwortlich sein dürfte und insofern richtet sich ein Großteil meiner Kritik eher an den Verlag. In letzter Zeit fällt es mir zunehmend auf, dass das Marketing der Verlage mit vollmundigen Versprechungen auf dem Klappentext aufwartet. Klar, es ist Werbung und soll zum Kaufen animieren. Das ist deren Job. Aber wenn Werbung und Realität zu weit auseinanderfallen, ist die Enttäuschung vorprogrammiert und die Leser*innen werden verprellt. Das kann nicht im Sinne des Verlags sein und für die Autor*innen ist das auch äußerst unangenehm. Insofern sollte die Werbung schon etwas mit dem Inhalt zu tun haben. „Spannung, Wissenschaft, Abenteuer… ein Science-Fiction-Epos der neuen Generation“ verspricht der Heyne Verlag hier, der ja ein großartiges Science-Fiction Programm hat und dementsprechend wissen sollte, was er da schreibt. Aber mit Wissenschaft hat „Der vierte Mond“ nun recht wenig zu tun. Und mit Logik und Glaubwürdigkeit steht der Roman auch auf Kriegsfuß.
Science Fiction?
Jeff VanderMeers Southern Reach Trilogie wird niemand an der Wissenschaftlichkeit messen, es ist, wie er es selbst nennt, Magischer Realismus. Und obwohl Ray Bradburys Mars Chroniken immer wieder zur Science Fiction gezählt werden, sind sie laut seiner eigenen Aussagen eher der Fantastik zuzuordnen. Bei Robert Heinleins Starship Troopers fragt man nicht, ob das überhaupt möglich ist und auch Becky Chambers misst niemand am Realismus. Die Autor*innen haben es selbst in der Hand, wie sie ihr Setting und World Building konstruieren und darstellen.
Verortet man seine Geschichte in fantastische Bereiche, wissen die Leser*innen was sie erwartet, feinste Fiction. Verortet man das Ganze aber in die nahe Zukunft und gibt ihm mehrfach den Anschein von Wissenschaftlichkeit und Realismus, dann wird man daran auch gemessen werden. Allein schon weil die Leser*innen eben mit dieser Erwartungshaltung an die Geschichte herangehen. Offensichtlich wusste das Weise auch, weshalb sie eine geradezu denkwürdige Danksagung ans Ende des Romans gestellt hat.
„Wie viel Science muss und wie viel Fiction darf in einen Text, damit er noch als Science-Fiction gilt?“ fragt Weise und versucht damit eine Selbstimmunisierung gegen Kritik. Dabei ist die Antwort denkbar einfach: Alles darf, es muss nur konsistent sein. „Natürlich habe ich trotzdem versucht, den Roman auf eine halbwegs glaubwürdige Basis zu stellen, denn gänzlich ohne Science geht es ja nun doch nicht in der Science-Fiction.“ Das ist allerdings weitestgehend misslungen und wie meine Beispiele oben gezeigt haben, geht es sehr wohl ohne Science, man muss es nur entsprechend Framen. Und wenn unzählige Aspekte zumal die Kerngeschichte nicht im Ansatz möglich sind, der Wissenschaft geradezu widersprechen und auch von Recherchemangel zeugen, dann ist das für die Leser*innen, die den Roman gerade wegen der angekündigten Wissenschaft lesen wollten, eine herbe Täuschung.
Space Fiction
Ich lese gerne auch Space Fiction (um hier mal einen Begriff vorzuschlagen, der die Science gleich auch begrifflich raushält) und Space Operas. Und es muss ganz sicher auch kein Hard SciFi sein, der ja auch in letzter Zeit massig überstrapaziert wird. Aber wenn man schon von Raumfahrt in knapp 80 Jahren schreibt, dann muss es da Beziehungen zur Realität und zur Machbarkeit geben. Es wäre doch gar kein Problem gewesen, das Setting hundert Jahre weiter in die Zukunft zu schieben. Aber Anfang des 22. Jahrhunderts sind gerade mal noch zwei bis drei Generationen. Einige der jetzt Geborenen werden das noch erleben. Aber die Regeln, die hier implizit mitgedacht werden müssten, spielen keine Rolle.
Dieser recht lapidare Umgang mit Konsistenz kann in Jugendromanen funktionieren, aber da es sich hier ausdrücklich um SciFi für Erwachsene handelt, empfinde ich zahlreiche wesentliche Einfälle, die die Grundgeschichte überhaupt erst ermöglichen sollen, als ziemlich absurd. Das beginnt schon beim Schmuggel von „interstellaren Andenken“. Interstellar ist da schon mal gar nichts, und angesichts der elementaren Wichtigkeit von Delta-V in der Raumfahrt, ist es nahezu undenkbar, dass Schmuggel überhaupt möglich wäre.
Das Unwissen über Raumfahrt und Astrophysik zieht sich durch den gesamten Roman. So ist es beispielsweise für die Reisedauer vollkommen egal, wo sich gerade der Jupiter relativ zur Erde befindet. Weder existiert eine dauerhaftes Controlling der Daten von Astronauten oder der Station, noch hält sich irgendwer an die überlebenswichtigen Protokolle. Eigentlich nicht schlimm, aber es bedeutet letztlich, dass der Roman für eine ganz andere Zielgruppe geschrieben wurde, als er nun beworben und vermarktet wird.
Mal hü, mal hott
Interessanterweise spielen etwa 300 Seiten überhaupt keine Rolle für die Hauptgeschichte, die gescheiterte Mission auf dem Jupitermond Kalisto, als den wesentlichen Spanungsbogen und Plot. Es sind quasi zwei Geschichten, eine hanebüchene Raumfahrtgeschichte, die in allen wesentlichen Punkten absurd ist (und selbst Schulwissen über Evolution widerspricht, nein, die ist nicht zielgerichtet und Anpassung verläuft über Zufall und nicht über Mehrgenerationenmodifikation) und einer Geschichte über Großkonzerne, die sich zwar durchaus gelungen liest, aber letztlich nur ein erzählerischer Nebenstrang ist, der dermaßen aufgebläht wird, dass er die titelgebende Kernerzählung an den Rand drängt. Zumal die verbindenden Elemente nicht einmal auserzählt sind, sondern mit Nebensätzen abgespeist werden. Der vierte Mond ist ein Mix aus Krimi, Thriller und Space Fiction. Wie gesagt, das kann funktionieren und liest sich seitenweise auch sehr angenehm, aber angekündigt war etwas ganz anderes.
„Aber Sam ist nicht gut darin, nur zuzusehen. Weder im Bett noch auf dem Schlachtfeld.“
Auha. Wäre es Pulp, wäre es gut. Sascha Rimpl hat das z.B. herausragend vorgemacht. Aber hier wirkt es einfach nur infantil. So wie der obsessiv masturbierende Der-Marsianer-Andy-Weir-Abklatsch.
Sehr ambivalent ist auch die Qualität des Schreibstils. Einerseits gibt es Seiten auf denen das (zu vermeidende) Hilfsverb „haben“ in allen nur erdenklichen Deklinationen 10 Mal benutzt wird, so dass der Lesefluss sich der ratternden Mühle am rauschenden Fluss annähert, klipp, klapp. Aber gleichzeitig gibt es immer wieder auch sehr schöne Formulierungen und ganze Abschnitte, die einen in die Geschichte hereinziehen. Besonders immersiv wirken hier Szenen mit einem armen Kind in Französisch-Guyana. Schreiben kann Kathleen Weise also. Bleibt dementsprechend zu hoffen, dass sich künftig besser abgestimmt wird, was hier beworben werden soll und wo man den Roman verortet.