Cover des Buches Zum Meer (ISBN: 9783351032913)
alascas avatar
Rezension zu Zum Meer von Kathrin Groß-Striffler

Lektüre mit Widerhaken

von alasca vor 10 Jahren

Kurzmeinung: Eine Antiheldin par excellence. Fesselnde Lektüre mit Widerhaken und Langzeitwirkung.

Rezension

alascas avatar
alascavor 10 Jahren
Lektüre mit Widerhaken
Saskia ist gerade mal zwanzig - und Mutter einer einjährigen Tochter, die sie in einem Akt der Verzweiflung kurzerhand in ihrer WG zurückgelassen hat, um an die Nordsee, „Zum Meer“, zu flüchten. Mia-Sophie ist das Kind des schönen, drogensüchtigen Raffael, mit dem Saskia während einer Brasilienreise eine Beziehung hatte. Gleich zu Anfang erleben wir Saskia in ihrer ganzen Zerrissenheit: Schwankend zwischen überbordender Liebe zu ihrer Tochter und Aggressionen wegen deren unablässiger Inanspruchnahme stellt sie mit entwaffnender Ehrlichkeit fest: "Mia- Sophie ist nicht da. Das ist gut, denn nun muss ich keine Angst haben, dass ich ihr etwas zuleide tun könnte.“

Saskia ist ein extremer Charakter, der keine Grautöne kennt; ständig schwankt sie zwischen Depression und Euphorie. Selbst bei einem gleichgültigen Vater aufgewachsen, der über dem frühen Verlust ihrer Mutter alkoholkrank geworden ist, ist Saskias eigene Bedürftigkeit, ihre Lebens- und Liebesgier übermächtig und lässt sie an ihrer Mutterrolle trotz bester Vorsätze immer wieder scheitern. Immer wieder hat sie Momente der Selbsterkenntnis, kann aber die gewonnenen Einsichten nicht umsetzen: "... Ich bin wohl die unfähigste Mutter, die auf diesem Planeten rumläuft, ganz bestimmt bin ich das." Unreife und Überforderung führen schließlich zu einer extremen Entscheidung.

Die Autorin lässt uns teilhaben an Saskias permanentem innerem Monolog. Ihre Gedanken kommen in langen intensiven Kettensätzen, die sich wie atemlos lesen und oft nur schwer ertragen lassen; Ton und Sprache bleiben dabei immer authentisch. So unfassbar Saskias Handlungen und Reaktionen oft auch sind, beschränkt sich die Autorin auf den Bericht und enthält sich jeder Wertung. Wir sind nah dran an dieser labilen jungen Frau, die zwischen sich und der Welt keine Grenze errichten kann und deren Stimmung infolgedessen ständig schwankt. Saskia will keine Kompromisse machen; sie will gleich glücklich sein. Da hilft es auch nicht, dass Saskias Vater offenbar eine Wandlung durchgemacht hat und, nunmehr trocken, versucht, ihr ein Halt zu sein; er muss vor dem Ergebnis seiner Erziehung kapitulieren. Noch schwerer wiegt die Hypothek, die Saskia mit sich herumträgt, durch die genetische Belastung durch eine offenbar psychotische Mutter. Ihre Ablehnung bürgerlicher Werte wie Beständigkeit, Zuverlässigkeit und Verantwortung stellt sie zwangsläufig außerhalb der Gesellschaft. Immer wenn die Leserin Hoffnung für Saskias Reifung und vor allem Mia-Sophie schöpft, ist es gerade die Stabilität der Situation, die Saskia entgegen der Interessen ihrer Tochter handeln und flüchten lässt. Und je länger der deutsche Winter andauert, und je nerviger ihr Job als Kellnerin wird, desto mehr verklärt sie ihre Zeit in Brasilien und Raffael, bis sie sich entschließt, nach Brasilien zurückzukehren, um Raffael endlich seine Tochter vorzustellen.

So verantwortungslos und unreif Saskia auch daher kommt: Ihre Situation ist nicht mehr als die Überspitzung der Situation einer ganz normalen Alleinerziehenden in Deutschland: auf sich gestellt, in finanziell prekärer Lage, dem deutschen Idealbild einer Mutter nicht genügen könnend. Saskias Blick auf die angepassten Mütter entlarvt wiederum deren Beschränktheit, etwa wenn sie die Frauen in der Mutter-Kind-Gruppe beschreibt, zu der sie einmal hingeht und dann nie wieder: "... gib ihr Ritalin, dann wird alles gut", heißt es da an einer Stelle. Zwar wird die kinderfreundliche brasilianische Kultur von Saskia völlig unkritisch überhöht, aber dennoch wird an ihr klar, dass unsere Gesellschaft vom Blick nach draußen profitieren könnte.

Eine fesselnde, erschütternde Lektüre, die lange nachwirkt. Leseempfehlung!
Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks