Cover des Buches Wildauge (ISBN: 9783869710822)
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Rezension zu Wildauge von Katja Kettu

Mitreißend

von M.Lehmann-Pape vor 10 Jahren

Rezension

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M.Lehmann-Papevor 10 Jahren
Mitreißend

Schon nach den ersten Seiten weiß der Leser, warum dieser dritte Roman von Katja Kettu mit Literaturpreisen versehen worden ist.

Eine intensive, mitreißende, bildkräftige, derbe, feine, grobe, differenzierte Sprache, die sich durchgehend im Buch darstellt, die je nach Perspektive und je nach Situation ändert, die in jeder Weise den je dargestellten Umständen und Zuständen unterschiedlich Ausdruck verleiht.

Von wie abgerissen wirkenden Stichworten, wenn mühsam nach Vokabeln gesucht wird von solchen, die der finnischen Sprache nicht mächtig sind, von fast poetisch-sinnlich (und doch eher derb und klar), wenn „Wildauge“, die Hebamme, spricht. Umso mehr bildreich und anhimmelnd, wenn sie von „ihrem Johannes“ spricht, der ihr raues Herz bei der ersten Begegnung bereits in Bewegung gesetzt hat.

„Und gleich vom ersten Augenblick an war deine Stimme für mich Bernstein und Kienholzrauch“.

„Wildauge“ ist der Spitzname der zupackenden Frau mit dem schielenden Auge und der wilden, ungebändigten Ausstrahlung, die den Eindruck erweckt, auch durch Wände zu gehen für das, was ihr wichtig ist (und die das tun wird an anderer Stelle).

„Wildauge ist keine Frau, sondern eine Naturgewalt“.

Wobei auch jener Johannes auf dem linken Auge schielt, doch „Wildauge“ als Bezeichnung würde auf ihn nicht passen. Zum einen, weil sein Auge nicht durch die Natur, sondern durch das Versehen eines Freundes damals in der Hitlerjugend geschädigt wurde, zum anderen, weil dieser Johannes feiner ist. Gewählter spricht und denkt, zunächst zumindest, sachlicher, reflektierter in diesem Lappland des Jahres 1944 seinen Dienst versieht.

Was allerdings nicht so bleiben wird. Denn neben der unbändigen Leidenschaft (was das Verhältnis beider deutlich eher beschreibt als „romantische Liebe“) erzählt Klettu in ihrer ganz eigenen, kraftvollen Sprache einen Teil der Geschichte der Besatzung Finnlands durch Wehrmacht und SS.

Die langsame Verrohung der Menschen. Das Lager, in das Johannes abkommandiert wird (und das stellvertretend für so viele Lager steht, allein im Bezirk Lappland gab es 76 solcher Lager). Die teils gedankenlose Brutalität, der „Unwert“ eines Menschenlebens, der Johannes selbst Schritt für Schritt in eine Spirale nach unten zieht. Nicht ohne Verantwortung seines ehemaligen Freundes (der für das kaputte Auge verantwortlich zeichnet), Hermann Gödel. Einer, er ihm nun vor allem das Gefühl von Angst bereitet.

Ein Mann, der (nicht nur in Johannes) Angst erzeugt, der „Freund“, der Johannes schnell an Drogen heranführt, um zu vergessen, um die Tage zu überstehen.

Tage mit Grausamkeit, die Kettu nicht nur teils klar beschreibt, sondern für die sie ganz eigene Ausdrucksbilder findet, die beim Leser lange nachhallen und vor dem inneren Auge bestehen bleiben.

„Ein Blick, der sich in den Gewehrlauf hineinschiebt und sich in der Bleioberfläche der Kugel eingräbt, kurz bevor sie herausfliegt“.

Eine intensive Entwicklung im Buch, wie das Geordnete, Klare des ersten Auftretens von Johannes mit einem kleinen Konvoi zur Zerrüttung hin sich entwickeln lassen wird, wie Verrat und Doppelverrat am „Fjord des toten Mannes“ um sich greift, wie abgestumpft wird, aber auch, wie bedingungslos geliebt wird und dabei jedes Hindernis auf lange Zeit hinaus überwunden werden wird.
Wie sich einfach alles ändert in jenen Tagen, durch den Krieg und als Finnland aus dem Krieg aussteigt und alles auch an Beziehungen, an klaren „Fronten“ über den Haufen geworfen wird.

„Wenn zweihunderttausend Männer losgelassen werden und durch die Gegend rennen, dann kommt dabei nix Gutes heraus. Dann geht das Schlachtvieh genauso flöten wie die Keuschheit der Mädchen“.

Ein Roman voller Sprachkraft und bildreich dargestellter Emotionen, der in der intensiven Zeichnung der Personen ebenso zu überzeugen versteht, wie in der inneren und äußeren Darstellung der umwälzenden Ereignisse jener Zeit
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