Cover des Buches Befreiung vom Schleier (ISBN: 9783868822625)
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Rezension zu Befreiung vom Schleier von Katja Schneidt

Zurück im selbstbestimmten Leben

von Dr_M vor 9 Jahren

Rezension

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Dr_Mvor 9 Jahren
Wenn man dieses Buch liest, dann entsteht eine merkwürdige Mischung von Emotionen und Gedanken, die man erst einmal sortieren muss. Jedenfalls erging es mir so. Konzipiert wurde der Text von der Autorin als Fortsetzung von Gefangen in Deutschland: Wie mich mein türkischer Freund in eine islamische Parallelwelt entführte von Schneidt. Katja (2011) Gebundene Ausgabe. In diesem Bestseller beschreibt Katja Schneidt ihre Flucht aus den Fängen der Familie ihres türkischen Freunds, in der sie von ihm faktisch versklavt wurde.

Offenbar war ihr erstes Buch für sehr viele Frauen das Signal, dass es möglich ist, sich von gewalttätigen Männern zu lösen und in ein selbstbestimmtes Leben zurückzufinden. Dass dies ganz offensichtlich kein seltenes Problem in Deutschland ist, erschüttert, und man wundert sich etwas, wo denn die üblichen Empörungsrituale bleiben, die sonst bei im Verhältnis zu diesen Zuständen geradezu lächerlichen Vorfällen medial aufgeführt werden.

Hätte es ein Buch einer deutschen Autorin über die Gewalttätigkeiten in einer rein deutschen Lebensgemeinschaft auch auf die Bestsellerliste gebracht? Wohl eher nicht, obwohl solche Zustände natürlich ebenso beklagenswert sind. Neben der Hoffnung auf Befreiung, die Frau Schneidts erstes Buch für viele betroffene deutsche Frauen brachte, war es wohl die keineswegs zufällige mediale Behutsamkeit, mit der Frauenunterdrückung, Ehrenmorde und andere mittelalterliche Vorgänge in Parallelgesellschaften mitten in Deutschland letztendlich unterstützt werden, die diesem Text so viel Aufmerksamkeit brachte.

Nun erfährt man die Fortsetzung der Geschichte. Die Autorin beschreibt zunächst den weiteren Verlauf ihrer Flucht und die penetranten Nachstellungen durch ihren türkischen Exfreund. Bei Katja Schneidt kippte im Laufe dieses Geschehens ihre sehr verständliche Angst in kalte Wut um. Und danach begann sie sich noch mehr zu wehren. Ihren dabei bewiesenen Mut kann man nur bewundern, denn Todesdrohungen gekränkter türkischer Männer muss man erfahrungsgemäß sehr ernst nehmen. Auf die Hilfe der Polizei zu setzen, bringt leider nicht viel. Erst muss etwas geschehen sein.

Das alles änderte sich jedoch schlagartig als die Veröffentlichung ihres ersten Buches bevorstand. Plötzlich wäre es ein Politikum gewesen, wäre dieser Frau tatsächlich etwas geschehen. Und nachdem Staatsanwälte das Buch gelesen hatten, begannen sie gegen den Exfreund zu ermitteln, obwohl selbst juristischen Laien schnell klar sein sollte, dass solche Ermittlungen aller Wahrscheinlichkeit nach im Sande verlaufen müssen. Was die deutsche Justiz in diesem Zusammenhang mit der Autorin anstellte, kann man im Buch nachlesen und sich nur noch wundern.

Frau Schneidt suchte nach dem regen Zuspruch zu ihrem ersten Buch erst recht die mediale Öffentlichkeit. Dadurch erst bekamen ihre Anstrengungen, Leidensgenossinnen zu helfen, eine ganz andere Dimension. Allerdings musste sie sich dabei auch den Vorwurf gefallen lassen, dass sie selbst Schuld an ihrem Schicksal sei. Sie hätte schließlich wissen müssen, was ihr drohen würde. Solche Vorwürfe sind ein wenig lebensfremd, denn im hormonellen Überschwang ist wohl bei fast allen Menschen die rationale Einschätzung einer Situation ein schwieriges Unterfangen.

Und wie soll man etwas einschätzen, was man jung an Jahren so aus eigenem Erleben nicht einmal im Entferntesten kennt? Viel interessanter dagegen sind Frau Scheidts Bemühungen in ihrem neuen Buch, das Ganze auf der Ebene ihrer persönlichen Erfahrungen zu halten. Sie betont mehrmals, dass Südländer eben anders seien und dass Gewalt auch unter Deutschen vorkommen würde.

So verständlich dieses Bemühen auch ist - es befindet sich natürlich im Kontrast zu Titel und Untertitel dieses Buches. Denn der Schleier steht doch wohl für eine Weltsicht, die mit dem westlichen Frauenbild nicht vereinbar ist. Und wenn im Untertitel des Buches von einer "islamischen Parallelwelt" in Deutschland gesprochen wird, dann verlässt man damit das konkrete Problem und wohl auch die Ebene "bikultureller Beziehungen", wie die Autorin das Problem gerne umschreibt, das in Wirklichkeit andere Dimensionen besitzt.

Naiv erscheint mir also weniger das Eingehen der Beziehung mit ihrem türkischen Exfreund, sondern vielmehr der Glaube, man würde mit den Büchern über diese Beziehung und ihre Folgen nicht ein allgemeines und brennendes Problem ansprechen, nämlich das der Parallelgesellschaften in Deutschland, über die ansonsten meistens ängstlich der Mantel des öffentlichen Schweigens gehüllt wird.

Das Buch bietet also Einblicke in Lebenswelten in Deutschland, die sich jenseits einer breiten medialen Wahrnehmung befinden, aber gerade deshalb auf ein großes Interesse stoßen. Für diese Informationen gibt es die fünf Sterne. Das Buch ist flüssig geschrieben und liest sich entsprechend gut. Dass die Autorin uns natürlich nicht alles erzählt, merkt man hingegen an gelegentlichen Sprüngen und an einer unterschiedlichen Detaildichte.
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