Cover des Buches Alles, was wir geben mussten (ISBN: 9783896672339)
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Rezension zu Alles, was wir geben mussten von Kazuo Ishiguro

Wann ist der Mensch ein Mensch?

von Aischa vor 6 Jahren

Kurzmeinung: keine leichte Kost, sehr gelungene Gesellschaftskritik

Rezension

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Aischavor 6 Jahren
Die Geschichte beginnt wie eine typische Internatsgeschichte: Protagonistin Kathy, inzwischen 30jährig, erinnert sich an ihre Zeit im Landschulheim Hailsham in der englischen Provinz. Der Leser bekommt Einblick in den Schulalltag, wir erfahren, wer mit wem befreundet ist, wer gehänselt wird, und dass die Direktorin ein ziemlich strenges Regiment führt.
Und doch ist von Anfang an etwas anders, zwischen den Zeilen entsteht eine merkwürdig bedrückende Stimmung. Kazuo Ishiguro erweist sich auch hier für mich wieder einmal als Meister der leisen Töne. Vieles wird nur angedeutet, manches ist erst dadurch seltsam, dass es fehlt, etwa Besuche von Eltern oder Ausflüge der Schüler.
Mit der Zeit wird klar, dass die Erziehung in Hailsham nicht in erster Linie der Wissensvermittlung dient. Denn die Aufgaben, die die Absolventen erwarten, sind bereits bei Schuleintritt festgelegt, und so geht es im Internat eher darum, wichtige Regeln zur Lebensführung und moralische Richtlinien zu verinnerlichen.

ACHTUNG, SPOILER!!!
Die Schüler sind allesamt menschliche Klone, lediglich am Leben, um als menschliche Ersatzteillager zu dienen. Nachdem sie das Internat verlassen, kommen sie in abgeschiedene Wohnheime, die sie nur zu ihren Organspenden verlassen. Es gibt eine Alternative zum Beruf des "Spenders", nämlich den des Betreuers, der dafür sorgt, dass die Spender möglichst viele Organentnahmen überleben. Allerdings wird erwartet, dass man nach einigen Jahren als Betreuer zur wirklichen Bestimmung findet und dann auch selbst Spender wird.

Ishiguro hat es geschafft, dass ich mich stundenlang gegruselt habe. Und das ohne dass er explizit schreckliche Szenen beschrieben hat, sondern einzig und allein dadurch, dass ich beim Lesen immer und immer wieder den Gedanken hatte: "Ja, das könnte auch in unserer Gesellschaft so entstehen. Und zwar schon jetzt."
Die Vorstellung, dass Kinder es als ihre Bestimmung sehen, als junge Erwachsene als Organspender zu fungieren, wenn sie es nur früh und oft genug hören ist für mich gleichermaßen erschreckend wie realistisch. Was kann ein Mensch ertragen, wenn ihm von klein auf eingeimpft wird, dass sein Weg vorgezeichnet ist? Wieso begehren die Schüler nicht auf?
Der vorliegende Roman zeigt für mich, wie wichtig es ist, dass wir als Gesellschaft diskutieren, was von den vielen Möglichkeiten, die Gentechnologie, Klonen etc. bieten, wir auch wirklich wollen. Und diese Diskussion muss breit erfolgen und darf nicht spezialisierten Wissenschaftlern in exklusiven Ethikgremien vorbehalten bleiben.

Für mich ein hervorragendes Buch, das wichtige, grundlegende Themen des Menschseins behandelt.
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