Frage an die Deutschlehrer: Was kriegt heute einer, der einen hervorragenden Aufsatz abliefert, aber das Thema verfehlt hat? Ich habe dafür mal eine Fünf kassiert, aber vielleicht war mein Aufsatz auch nicht hervorragend. Bei mir bekommt der Kersten Knipp 4 von 5 Punkten.
Deutschsprachige Bücher zur jüngeren, französischen Geschichte gibt es nicht so viele. Oftmals werden aus den Jahren 1940-44 die Shoah und die Resistance romanhaft verarbeitet; aber da fehlt mir die systematische Darstellung. Insofern hatte ich mir vom Titel her einen Einblick in den französischen Alltag unterm Hakenkreuz erwartet und von dem als Leseprobe verfügbarem, ersten Kapitel hatte ich durchaus die Hoffnung, dass diese Erwartungshaltung auch erfüllt würde. Sehr detailliert und kenntnisreich schildert der Autor hier das Leben der Franzosen im Jahr 1939. Vielleicht kommt die Wirtschaft dabei etwas kurz, aber sonst wird man gut mitgenommen. Ich war begeistert (wie kann einer so viele Details zusammentragen?) und habe mir das Buch deshalb sogar in der Printversion bestellt.
Gut, das musste wohl sein, erst mal den deutschen Überfall und seine Vorgeschichte auf französischer Seite detailliert zu schildern. Das Psychogramm, das der Autor von der danach geschockten, französischen Gesellschaft zeichnet, gehört ebenfalls noch dazu und auch bei seiner Darstellung der Petain-Regierung habe ich einiges dazugelernt. Die Unterschiede zum Nazi-Regime waren ja wirklich marginal, nur dass man die Vernichtung der Juden den Deutschen überlies. – Aber was war eigentlich mit den anderen „Fremden“? Ich meine jetzt nicht nur politische Exilanten, sondern auch Sinti und Roma. Und wie weit ging man mit der „gesunden Familie“ – etwa auch wie die Nazis bis zur Euthanasie? Wie dicht war die Demarkationslinie und wie sah es in den von der WVD Brüssel verwalteten Nord-Departements aus? –Lauter Fragen, die m.E. zum Alltag unterm Hakenkreuz dazugehört hätten.
Sehr ausführlich wird an Beispielen die Deportation der Juden geschildert, aber wie lief das Leben der untergetauchten oder noch geduldeten? Welche Hilfs- und Schleuserstrukturen gab es? Wie sah es in den Konzentrationslagern aus, es gab ja noch andere außer dem Velodrome ? Ähnlich ausführlich wird, wiederum an Beispielen, geschildert, wie sich Resistance und Maquis formieren, aber wie erfolgte die Steuerung aus London und im Lande? Der Alltag, der sich ja nun vermutlich auch in der Collaboration abspielte, wird praktisch ausgeblendet, kommt ganz kurz bei den politischen Säuberungen (so sagt man auf Deutsch wohl eher zur Epuration) am Einzelfall der Schauspielerin Corinne Luchaire zur Sprache. Stattdessen werden die Vergeltungs- und Racheakte geschildert.
Das Buch ist durchgängig in einem leicht lesbaren Stil geschrieben und auch wirklich lesenswert – aber das, was man sich nach dem Titel erhofft, kommt zu kurz. Wenn es auch mühevoller zu lesen ist, aber da erfährt man aus dem Tagebuch von Leon Werth mehr über den Alltag der Franzosen zwischen 1940 und 1944.