Eine Überdosis von (Jo/H)Annas
von Ein LovelyBooks-Nutzer
Kurzmeinung: Eine spannende Geschichte, die sich nur schwer in eine Schublade stecken lässt. Nur das Ende ist ein wenig unbefriedigend.
Rezension
Blöd nur, dass sie plötzlich im Körper von Anna Gerlach aufwacht, einer Frau, die ihrem wahren ich nicht unterschiedlicher sein könnte. Anna wohnt in einem Dorf etwas abseits von Frankfurt, führt ein etwas spiesiges Leben, arbeitet in einem Bio-Laden, ist verheiratet – und Joanna sieht sich mit mächtigen Problemen konfrontiert, denn dieses normale Leben ist für sie alles andere als gewohnt.
Während Joanna beginnt, sich langsam in das Leben der Anna zu fügen, stellt der freie Blogger Leo Nachforschungen über Joanna Hochmuths Selbstmord an. Als Anna dies mitbekommt, sieht sie in ihm eine Chance, den Umständen ihres neuen Lebens auf den Grund zu kommen.
Bei der Geschichte um Joanna und Anna allerdings, habe ich sehr schnell einen Draht gefunden und konnte mich in einer unglaublichen Geschwindigkeit in die Szenerie hineinversetzen, wie ich es bislang erst selten erlebt habe. Vor allem der wirklich coole Auftakt, der in Joannas Selbstmord gipfelt, hat einen sehr interessanten, experimentellen, aber dadurch eben im Gedächtnis bleibenden Stil. Da hat es mich auch nicht gestört, dass man nach eben diesem Auftakt das Tempo erst einmal gedrosselt hat, um (Jo)Anna in ihrem neuen Leben willkommen zu heißen.
Im Laufe der Geschichten lernt man die wichtigsten Menschen in Annas Leben kennen, wobei es Frau Westerbeck hier gelingt, den Charakteren allesamt in kurzer Zeit viel Leben einzuhauchen und es immer wieder schafft, neue Facetten in deren Eigenarten unterzubringen. Besonders interessant und lobenswert finde ich übrigens, dass jeder einzelne Charakter, der eine bedeutendere Rolle spielt, im Laufe der Geschichte eine spürbare Wandlung durchzieht. Charaktere, die anfänglich unsympathisch oder nervig erschienen sind, sind mir ans Herz gewachsen, andere, die am Anfang nett gewesen sind, haben bald schon tiefe Abgründe aufgezeigt. Letzten Endes aber hat es keinen Handlungsträger gegeben, dem ich abgeneigt gewesen bin. Alle haben sich irgendwie in mein Herz geschlichen. Vor allem Leo.
Die Entwicklung des Romans ist wohl eine der größten Stärken der Geschichte. Nach Joannas Selbstmord wird man mit ihr zusammen in eine völlig neue und unbekannte Umgebung geworfen. Sie weiß genauso viel über ihre neue Familie, wie wir als Leser und so lernen wir Annas Leben auf dieselbe Weise kennen, wie Joanna selbst. Wir lernen ihre Schwiegereltern und ihren Ehemann kennen, ihre Arbeitskollegin, ihren Arbeitsplatz. Nach und nach wirft Frau Westerbeck dem Leser ein paar Brotkrumen zu, die Licht ins Dunkel bringen und nach und nach die Umstände von Joannas Tod erläutern. Dabei gelingt es ihr, immer wieder Spannung aufzubauen, ohne dabei zu viel zu verraten (auch wenn ich zugeben muss, dass ich fast alle Höhepunkte der Geschichte bereits etliche Kapitel zuvor richtig vorausgesagt habe, aber das habe ich sogar als befriedigend, nicht als störend empfunden). Lustig finde ich es übrigens, dass wir in Leos Kapiteln mehr über Joanna erfahren, als in ihren eigenen Kapiteln. Aber das nur als kleine Anmerkung.
Die Zusammenhänge zwischen Annas und Joannas Leben habe ich leider als etwas sehr an den Haaren herbeigezogen empfunden. Vielleicht liegt es daran, dass auf den Umstand nur wenig eingegangen worden ist, ich für meinen Teil habe es leider als etwas hahnebüchen und unspektakulär abgelegt. Nach all der Spannung, die das Buch aufgebaut hat, ist mir die Auflösung einfach viel zu banal und uninspiriert vorgekommen, dass es mir leider die letzten – na ja, circa – 50 Seiten irgendwie verdorben hat.
Wie dem auch sei, ich habe die Geschichte trotz einiger Kritikpunkte am Ende sehr genossen und möchte ihr verdiente 4 von 5 Sternen geben!
P.S.: Wer sich in Frankfurt auskennt, wird hier weniger Orientierungsschwierigkeiten haben, als ich kleiner Ossi :P