Cover des Buches Oda (ISBN: 9783458173854)
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Rezension zu Oda von Ketil Bjoernstad

Rezension zu "Oda" von Ketil Bjoernstad

von HeikeG vor 16 Jahren

Rezension

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HeikeGvor 16 Jahren
Sehnsucht und Abhängigkeit Eine Frau auf dem Weg zur Freiheit, eine Frau für die neue Zeit Ketil Bjørnstad - dieser Name steht nicht nur in Norwegen, sondern auch über die Landesgrenzen seiner Heimat hinaus, als Pseudonym für eine einzigartige künstlerische Karriere. Denn neben seiner erfolgreichen Musikerlaufbahn als Pianist und Komponist, machte sich der 1952 in Oslo geborene Bjørnstad auch noch einen exzellenten Namen als Schriftsteller. Über dreißig von ihm geschriebene Bücher sind bislang veröffentlicht worden: vor allem Romane ("Vindings Spiel", "Villa Europa"), aber auch Sammelbände mit Gedichten oder Essays, die teilweise in diverse Sprachen übersetzt wurden. Zu seinen bekanntesten literarischen Werken gehören zweifellos die beiden Romanbiografien des Komponisten Edvard Grieg (1843-1907) und des Malers Edvard Munch (1863-1944). Bereits 1983 erschien in Norwegen eine andere Romanbiografie mit dem Titel "ODA!". Die Malerei ist gleichfalls begleitendes Thema und Edvard Munch findet ebenso "Erwähnung", doch zentraler "Gegenstand" seines psychologisch vielschichtig strukturierten Werkes ist eine Künstlerin, die sich als "vraie princesse de la bohème" - als "Prinzessin der Bohème" - genauso wie als anerkannte Malerin einen Namen machen sollte: Oda Krogh. Ottilia ("Oda") Lasson (1860-1935) ist die zweitälteste Tochter des norwegischen Regierungsrats Christian Lasson und dessen Ehefrau Alexandra. Gemeinsam mit neun Geschwistern wächst sie in einem konservativen Elternhaus auf. Ihr Vater vertritt die Meinung, dass ein Stimmrecht für Frauen unweigerlich zu einer Katastrophe für die Demokratie führen würde. Ihre Mutter, Enkelin einer russischen Prinzessin, äußert sich nicht zu solchen Themen, denn einer Frau steht keine politische Meinung zu. Kristiania-Bohème Doch Oda verlangt bereits frühzeitig und ungeniert die gleichen Rechte wie zum Beispiel ihr Bruder: Klavierstunden, Konzertbesuche. Allerdings scheint der konservative Grundtenor des Elternhauses auch ihr Leben vorzuzeichnen. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter heiratet sie den Unternehmer Jørgen Engelhardt, von dem sie zwei Kinder bekommt. Als jedoch ihr innig geliebter Bruder stirbt, den sie die letzten Wochen aufopferungsvoll pflegt ("Pers Todeskampf wurde zum Maßstab für alles, was sie später empfinden sollte."), formt dies ihr weiteres Leben nachhaltig. Hinzu kommen die sich ändernden politischen Zeiten der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts - die Zeit der "schrecklichen Freidenkerei und der Frauenemanzipation", wie ihre Schwester Nastinka meint. Oda wird Schülerin und spätere Geliebte des bekannten Malers Christian Krogh und reicht die Scheidung von Engelhardt ein. Die amtliche Trennung soll sich jedoch noch lange und schmerzhaft hinziehen. Zu allem Unglück wird sie von Krogh schwanger, und als der offensichtliche Umstand nicht mehr zu kaschieren geht, fährt sie mit ihm heimlich - da noch mit Jørgen Engelhardt verheiratet - nach Belgien. Das dort geborene kleine Mädchen Nana lässt sie bei Pflegeeltern zurück: ein weiteres tief prägendes Ereignis. Trotz ihres äußerlichen Selbstbewusstseins und Stolzes überwiegt bei der bürgerlich-konservativ erzogenen Frau die Angst vor der Schande. Oda versucht den Verlust zu kompensieren. Die Gruppe der Kristiania-Bohème (Kristiania war zu dieser Zeit Hauptstadt von Norwegen), welche die bürgerliche Gesellschaft und ihre Moral ablehnt sowie sexuelle Freiheit und soziale Gleichheit propagiert und zu der viele Künstler (u. a. Edvard Munch) und Intellektuelle zählen, wird ihr zweites Zuhause und Oda bekennendes und aktives Mitglied. Mit dem führenden Kopf, dem Schriftsteller Hans Jaeger, beginnt sie eine obsessive Liebesaffäre. In diese, von ungesunder Abhängigkeit geprägte Dreiecksbeziehung, stößt gleichfalls Christian Krogh. Inneres Gefühlsinferno Schonungsloses Zeugnis gibt Ketil Bjørnstad, indem er den Briefwechsel Odas mit Jaeger in sein Romankonstrukt einflicht. Die Originalbriefe sowie die von Zeit zu Zeit gewählte Ich-Form brechen die auktoriale Erzählform auf. Diese Wechsel spiegeln großartig die tiefe innere Zerrissenheit der jungen Frau. Übermäßiger Alkoholgenuss, Depressionen und unerträgliche Stimmungsschwankungen sind an der Tagesordnung. Ihre Beziehung zu Christian Krogh bekommt einen tiefen Riss und sollte nicht mehr gekittete werden können. Trotzdem heiratet sie ihn, mehr aus Angst, dass sich der Maler etwas antun könnte und moralisch-gesellschaftlichen Aspekten. Die Beiden bekommen noch einen gemeinsamen Sohn - Per - und holen im Frühling 1890 die inzwischen sechsjährige Tochter Nana aus Belgien zurück. Doch Oda wird Zeit ihres Lebens keine innere Ruhe und Einkehr finden. Aus ihrer permanent gefühlten Abhängigkeit, zuerst von ihrer Mutter, dann von ihrem Vater und ihrem Bruder Per, später von Krogh, kann sie sich nie lösen. "Zu viele Menschen haben Macht über mich gehabt, (…) und haben gewusst, sie zu missbrauchen." Ihrem inneren Gefühlsinferno war sie nicht gewachsen. "Sie wusste, dass es in ihrem Leben nur zwei Möglichkeiten gab: zu fliehen oder sich selbst in die Augen zu schauen." Oda wählt die Flucht: in verschiedene Orte Europas (Dänemark, Belgien, Berlin, Paris) und in die Arme von anderen Männern (die Schriftsteller Jappe Nilssen, Sigbjørn Obstfelder, Gunnar Heiberg). In vielen Romanen dieser Männer wird sie zentrales Hauptthema sein, aber eine eigene, persönliche Identität wird sie sich - außer in ihren Bildern - nie schaffen können. Die Worte ihrer Schwester Soffi bringen es auf den Punkt: "Du bist ein Kind, du hast große, kluge Kinderaugen, und für ein Kind ist es unerträglich, nicht suchen, nicht finden zu können. Ich weiß, du hast gefunden, in kurzen Augenblicken, nicht nur in einem, aber ein bisschen in vielen." Erst spät stellt Oda Krogh fest, dass es nicht Unabhängigkeit war, was sie suchte, sondern Bindung. 1935 stirbt diese Frau, zwar berühmt, aber einsam. Großartiges Frauenporträt und wunderbares Zeitzeugnis Ketil Bjørnstads "Oda" ist neben einem großartigen Frauenporträt auch ein wunderbares Zeitzeugnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Norwegen und Europa und bietet großartige Einblicke in die Künstlerszene der damaligen Zeit sowie der anti-bürgerlichen Bohème. Gefühlvoll und klug, manchmal sperrig, aber größtenteils flüssig zu lesen, zeichnet der Autor das Bild dieser zerrissenen Frau und Künstlerin, ihr ewiges Brausen der Gefühle, die ihren Weg zeitlebens bestimmen sollten und die eigentlich nie richtig erwachsen wurde. Den Musiker merkt man Bjørnstad in dieser großartigen Romanbiografie deutlich an. Er spielt eine wunderbare Klavierpartitur, setzt manchmal kurze Sätze und Wörter als Töne und Akkorde, um dann wieder lange Melodien, die sich über mehrere Sätze erstrecken, einzuflechten. Aber gerade diese arhythmische Komposition verleiht dem Buch seinen besonderen Reiz. Auch bleibt jedes Nebenthema klar und einfach sichtbar, der rote Lebensfaden der zerrissenen Künstlerin ist allseits präsent. Großen Anteil am Gelingen hat gleichfalls die Übersetzung aus dem Norwegischen von Lothar Schneider, der den musischen Ton von Bjørnstad flüssig ins Deutsche übertragen hat. Wenn der Autor seine Protagonistin schlussendlich sagen lässt: "Ich habe dir eine Geschichte über das Leben erzählt, nicht so, dass es seine Struktur in einem Kunstwerk findet, sondern so, dass es unstrukturiert an uns allen seine Spuren hinterlässt und vielleicht am meisten bei denen, die sich weigern, Zuflucht in etwas zu suchen, das sie nicht sind.", so treffen diese Worte zu Hundert Prozent auch diese Romanbiografie. Fazit: Ketil Bjørnstads "Oda" ist das großartige und melodische Aufspüren der Geschichte eines gelebten Lebens, die Rekonstruktion einer Selbstbiografie, die nicht vollendet wurde. Eine Geschichte über den Platz der Liebe in unserem Leben, über Befreiung, Machtkampf und Verstellung sowie über die Kunst, wahrhaftig zu leben.
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