Dass einen ein Buch sofort zu packen weiss, das kommt gelegentlich vor, dass dann aber dieses Gepackt-Sein bis zum Ende des Buches anhält, das ist selten - und ganz speziell bei einem literarischen Werk.
Kim Thúy kam während der Tet-Offensive 1968 (am 31. Januar also) in Saigon zur Welt. „Meine Geburt diente dem Zweck, verlorenes Leben zu ersetzen. Mein Leben stand in der Pflicht, das meiner Mutter fortzuführen.“ Als sie 10 Jahre alt ist, flieht sie mit ihrer Familie übers Meer und gelangt über ein malayisches Flüchtlingslager nach Kanada. 30 Jahre später erzählt sie die Geschichte ihrer Emigration, doch so recht eigentlich handelt es sich bei Der Klang der Fremde nicht nur um eine Geschichte, sondern um ganz viele - von einem thailändischen Kindermädchen; von einer Grossmutter, die ganze Tage lang einkaufte, ohne sich von der Stelle zu rühren; von der Ahnenverehrung („Die Ahnen - gleich, ob sie Spieler, Versager oder gewalttätig waren - wurden ehrenwert und unberührbar, sobald sie tot waren „); davon, dass Kims Mutter mit fünfundfünzig begann, sich neu zu erfinden; was Kim als Dolmetscherin für die New Yorker Polizei lernte etc.
Dieses Buch ist eine Schatztruhe an vietnamesischen Lebensweisheiten („Das Leben ist ein Kampf, in dem Trauer zur Niederlage führt“; „Angst hat nur, wer lange Haare hat, denn wenn man keine hat, kann keiner dran ziehen.“), gescheiter Einsichten (so sagt Thúy über den Pflichtunterricht in der Schule: „Jung, wie wir waren, wussten wir nicht, dass dieser Unterricht ein Vorrecht ist, das sich nur Länder im Frieden leisten können.“) und scharfsinniger Beobachtungen: „Die Existenz all dieser Frauen, die Vietnam auf ihrem Rücken trugen, während ihre Männer und Söhne auf dem ihren Waffen transportierten, wird oft vergessen. Man vergisst sie, weil sie unter ihrem spitzen Hut nicht zum Himmel blickten. Sie warteten nur auf den Sonnenuntergang und sanken dann eher in eine Ohnmacht als in den Schlaf. Hätten sie genug Zeit gehabt, den Schlaf zu erwarten, hätten sie in Gedanken ihre in tausend Stücke zerrissenen Söhne oder die Leichen ihrer Männer wie Wracks auf einem Fluss treiben sehen. Die amerikanischen Sklaven konnten ihr Leid auf den Baumwollfeldern besingen. Diese Frauen liessen ihre Trauer in den Herzkammern wachsen.“
Vietnam hat immer eine grosse Faszination auf mich ausgeübt. Ich habe viele Bücher über den Krieg dort gelesen, vor Jahren war ich auch drei oder vier Mal während ein paar Wochen vor Ort, doch ich kann mich an kein anderes „Vietnam-Buch“ erinnern, das mich so angezogen wie Der Klang der Fremde, dessen erlebte (und nicht etwa erfundene) Geschichten in Vietnam, Malaysia und Kanada spielen. Das liegt vor allem daran, dass Kim Thúy ein Händchen fürs Erzählen hat und weiss, dass manchmal ein paar wenige Zeilen genügen, um eine Geschichte zu erzählen. Es liegt aber auch daran, dass sie magische Sätze zu schmieden versteht: „Fotos konnten die Seele unserer ersten Weihnachtsbäume nicht bewahren.“