Kirsten Boie widmet sich in "Heul doch nicht, du lebst ja noch" einem wichtigen geschichtlichen Thema und verpackt es in einem dünnen Roman für Jugendliche (mit 177 Seiten zuzüglich Glossar ein gut machbarer Lesehappen).
Inhalt
Abwechselnd wird aus Sicht von den drei Jugendlichen Jakob, Traute und Hermann berichtet, deren Situation und Schicksal im zerstörten Hamburg im Jahr 1945 nicht unterschiedlicher hätte sein können.
Jakob ist Halbjude (deutscher Vater, jüdische Mutter) und musste sich aus Sicherheitsgründen nach dem Tod des Vaters verstecken. Die letzten Kriegswochen lebt er in einer zerstörten Ruine und wird von seinem Retter versorgt. Dieser taucht jedoch seit ein paar Tagen nicht mehr auf. Dass der Krieg zu Ende ist, weiß Jakob noch nicht. Aber wenn er nicht verhungern will, muss er sein Versteck verlassen und draußen überleben.
Dort trifft er auf Kinder, die zwischen den Trümmern spielen. Traute, deren elterliche Backstube und Wohnhaus noch steht, die sich aber den Platz mit einer aus dem Osten geflüchteten Familie teilen muss, was nicht leicht für alle Beteiligten ist.
Hermann, der ehemalige HJ-Truppenführer, der nichts von den Besatzern hält und noch an vieles glaubt, was ihm von den Nazis eingetrichtert wurde und dessen Vater als Krüppel ohne seine beiden Beine aus dem Krieg zurückkam. Jetzt muss seine Familie zusehen, wie sie zurechtkommen. Die Mutter enttrümmert, der Vater leidet in seinem Selbstmitleid und Hermann wird aufgerieben, zwischen den Wutanfällen und der Hilflosigkeit des Vaters, den er regelmäßig zum Scheißhaus tragen muss.
Während Hermann sich fragt, wo er selbst bleibt und welche Zukunft er mit einem versehrten Vater noch hat, muss Traute einen Weg finden, mit der einquartierten Familie zurechtzukommen. Am schwierigsten ist die Situation aber für Jakob, der sich allein durchschlagen muss als überlebender Jude. Gegen den Hunger kämpfen und mit der veränderten Lebenssituation durch Krieg, Zerstörung und Kapitulation und Besatzung zurechtkommen müssen sie jedoch alle.
Fazit
Leider fehlt dem Buch über weite Strecken hinweg die Spannung. Dass der Krieg zu Ende ist, und Jakob nicht mehr wirklich in Gefahr schwebt, kostet dem Buch in meinen Augen etwas an Potential. Es ist über weite Strecken ein interessanter und eindrücklicher Nachkriegsbericht, der gut lesbar und sicher interessant und wichtig für Jugendliche und junge Erwachsene ist, für die diese Zeit und diese Lebensumstände weit weg sind.
Auch der Situation um das Schicksal von Soldaten wie Hermanns Vater fehlt ein wenig die Tiefe, man versteht, wie schrecklich dieses Schicksal für die Versehrten und ihre Familie ist, aber auch hier bleibt Potential auf der Strecke, weil das Buch so schnell abgehandelt ist.
Andererseits ist es dadurch aber auch für langsame Leser geeignet.
Die Sprache ist nicht kompliziert, sondern lediglich durch die zeitlichen Hintergründe gekennzeichnet. Damalige Jugendsprache und sprachliche Hamburger Einschläge inbegriffen.
Die Kapitel sind mit dem jeweiligen Datum (von Freitag, 22.6.1945 bis Donnerstag, 28.6.1945) versehen. Jedes Mal, wenn sich die Perspektive ändert, steht der jeweilige Name (Jakob, Traute, Hermann) über den Abschnitten, die teilweise nach wenigen Seiten, manchmal aber schon nach nur einer halben Seite wechseln. Die Wechsel stören nicht, kann man sich gut in die jeweilige Figur hineinversetzen und die Inhalte greifen gut ineinander und beleuchten die Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven.
Boie gelingt hier ein umfassender zeitgeschichtlicher Roman der trotz leichten Schwächen viele Themen des Lebens im besiegten Hamburg und im Nachkriegsdeutschland aufgreift: von Hunger, Arbeit, Enttrümmerung, Ruinen, Lebensmittelmarken, Einquartierung, Erlebnisse auf der Flucht, Propaganda und Vorurteilen in den Köpfen, Bombardierung, Besatzung, Entnazifiezierung, Schwarzmarkt, Kriegsfolgen und Soldatenschicksale bis hin zum Schicksal der Juden und noch einiges mehr.
Für diese Themen könnte der Roman aber noch ein bisschen mehr unter die Haut gehen, so ist er ganz gut aushaltbar.