Cover des Buches Der Atem der Vögel (ISBN: 9783103972702)
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Rezension zu Der Atem der Vögel von Klaus Böldl

Berückend schöne Naturbeschreibungen bei gleichzeitigem Selbstverlust

von Schelmuffsky vor 7 Jahren

Rezension

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Schelmuffskyvor 7 Jahren

Neulich war das Hintergrundbild der Suchmaschine Bing ein traumhaft schönes Foto von den Färoer-Inseln. Das veranlasste mich, den neuen Roman von Klaus Böldl in die Hand zu nehmen, der genau dort spielt und oben auf dem Stapel der ungelesenen Bücher lag. „Roman“, „spielen“, beides sind im Zusammenhang mit diesem Buch irreführende Wörter, erzählt im eigentlichen Sinne wird fast nichts, zu Anfang gibt es noch ein paar hingetupfte Episoden, die gegen Ende des Textes allmählich in einer reinen Beschreibung der Umgebung verebben.

Philipp, der „Erzähler“, lebt mit Johanna und deren Tochter zusammen. Von Johanna erfahren wir wenig außer, dass sie im örtlichen Krankenhaus arbeitet, und dass sie für Philipp „überpräsent“ ist: „Während man mich stets zuverlässig an einer Stelle finden kann, (…) ist Johanna stets im Haus. Alle Räume und noch die entlegensten Winkel strotzen geradezu von ihrer Gegenwart. Überall hat sie soeben etwas aufgeräumt, glänzt noch das Fensterbrett, die Tischplatte, über die sie eben noch mit dem feuchten Lappen gewischt hat, und überall kann man den leisen Duft ihres Parfüms erschnuppern, oder auf einem Sitzpolster noch ihre Körperwäre spüren. Man muss Johanna schon fest an sich drücken, um die Grenzen ihres Körpers zu erfahren.“ Es ist schwer, neben so einem Menschen anwesend zu sein, „Raum zu greifen“, in der Tat gelingt dies Philipp nur außerhalb des Hauses: „Es kommt mir so vor, als sei in unserem Leben mir allein die Aufgabe zugeteilt, mich in der Welt draußen vor den Fenstern zu verlieren.“ Diesen Selbstverlust zu kompensieren gelingt Philipp allenfalls im Zusammensein mit Johannas kleiner Tochter Rannvá, zumal bei den ausgedehnten Spaziergängen in die landschaftlich einzigartige Umgebung. Rannvá ist wie alle kleinen Kinder präsent, ohne Philipp in seinem Selbst einzuschränken. Es ist erkennbar, dass Philipp das als befreiend erlebt.

Wir wissen von Philipp nur, dass er eines Tages mit einem Werkvertrag des Nationalmuseums auf die Färöer kam, um dort eine Chorgestühl zu restaurieren. Er macht ein paar Andeutungen über seine damalige Kollegin, wie sonst auch erschöpfen sich diese aber in der Beschreibung von äußeren Eindrücken. Was Philipp aktuell tut, wozu er ein kleines Arbeitszimmer benötigt, darüber erfahren wir nichts. Seine Wahrnehmung erschöpft sich im Beobachten, mehr als das Sichtbare scheint ihn nicht zu interessieren, zum Beispiel auch nicht, ob Johanna mit dem Kollegen Jens, der öfter mal bei ihr zuhause auftaucht, eine Affäre hat oder nicht. Philipp teilt noch andere Beobachtungen mit, eine junge Frau, der er als Bedienung in einem Hotelrestaurant kurz begegnet war, wird wenige Tage darauf tot aus dem Hafenbecken geborgen. In einer Kindheitserinnerung wird kurz ein Junge erwähnt, mit dem Philipp damals befreundet war, der aber irgendwann spurlos verschwand. Als Leser fühlt man sich ein wenig alleine gelassen mit diesen hingeworfenen Schnipseln, die nicht aufgelöst werden. Es scheint dies aber in der Natur von Philipp zu liegen, dass er beobachtet, sich aber nie Fragen stellt nach einem Warum, Wie oder nach dem, was in der Zukunft für ihn bereit liegen könnte.

Bei all dem glänzt Böldl wieder mit großartigen (Natur-)Beschreibungen. Nach der Abreise von Johanna und Rannvá zu Johannas Mutter macht Philipp sich auf einen ziellosen Weg. Ab dann werden nur noch Beobachtungen notiert, die Orte, durch die er kommt, kleinste Wahrnehmungen, die Stille, die sogar den Leser bei der Lektüre geradezu einhüllt. Die Landschaft ist karg, selbst die Häuser sind schwarz, oftmals rief ich Wikipedia-Artikel auf oder betrachtete die Gegend auf Google Earth und dachte bei mir, dass man in dieser Umgebung durch die Reduktion der Außenreize – kaum Farben, keine Musik, wenig von Technik herrührende Geräusche, wenig Begegnungen – eigentlich auf sich zurückfallen müsste. Bei Philipp passiert dies nicht, er fällt gleichsam ins Außen, verliert sich selbst, wie er es im obigen Zitat schreibt, verliert sich in einem Maße, dass eine Rückkehr unter Menschen kaum vorstellbar ist. Mir fiel Christopher Knight ein, über den ich neulich einen Artikel gelesen hatte. Christopher Knight war als junger Mann eines Tages mit seinem Auto immer weiter in die Wildnis des amerikanischen Nordens vorgedrungen, bis der Tank leergefahren war. Er lebte 27 Jahre ohne jeden Kontakt zu anderen Menschen und wurde nur zufällig gefunden. Von dieser Sorte Mensch scheint mir auch Philipp zu sein.

Die Lektüre war für mich zwiespältig. Die Präzision der Beschreibungen ist hohe Sprachkunst, die mangelnde Selbstreflexion des Erzählers aber war für mich manchmal ein Ärgernis. Und so habe ich das Buch nach der Lektüre etwas ratlos wieder zugeschlagen.

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