Cover des Buches Bestseller (ISBN: 9783462048537)
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Rezension zu Bestseller von Klaus Modick

Gelungene Satire über den Literaturbetrieb und das, was wir so lesen

von Joachim_Tiele vor 8 Jahren

Kurzmeinung: "Lesen!" (S. 268)

Rezension

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Joachim_Tielevor 8 Jahren
Bei den meisten guten Büchern gibt es einen vordergründigen Inhalt und ein Thema, um das es eigentlich geht. Ersterer wird im Klappentext und von den meisten Vorrezensenten trefflich wiedergegeben, weshalb er hier nicht wiederholt werden soll. Das Thema des Buches ist der Literaturbetrieb und das, was wir so lesen, sei es, weil es der Literaturbetrieb so will, sei es, dass ein Buch unseren Geschmack trifft oder weil wir glauben, es gelesen haben zu müssen, weil alle anderen es auch gelesen haben und wir mitreden möchten. Klaus Modicks Bestseller liest sich flüssig und schlüssig, die Glaubwürdigkeit der Handlung ist durch Modicks eigene literarische Vita verbürgt (im Sinne von, dass sich alles so hätte abspielen können, was ja gemeinhin den Realismus in der Belletristik ausmacht), und ihre satirische Darstellung zieht alle Register von der feinsinnigen Anspielung bis zum gezielt eingesetzten Kalauer, der einen spätestens beim zweiten Lesen doch schlucken und vielleicht sogar zusammenzucken lässt.

Warum jetzt diese Retrorezension, nachdem es das Buch seit seinem Erscheinen als Hardcover inzwischen schon seit neun Jahren gibt? In einem aktuellen Thread auf der Webseite des Onlinemagazins Literarturcafé, in dem sowohl über das Thema Literatur für Ältere (als nicht vorhandene, aber von manchen gewünschte Genreliteratur) als auch über die Schwierigkeiten älterer schriftstellerischer Debutanten beim Finden eines Verlages diskutiert wird, wurde das in Bestseller beschriebene Vorgehen des Protagonisten in einem Post als ernstgemeinter Vorschlag formuliert. Nicht mit einem Hinweis auf Modicks Roman, sondern als Tipp: Dem mit diesem Post angesprochenen Autor wurde in der Form eines Fragekatalogs unter anderem empfohlen, sich (...) als junge Frau aus(zu)geben? Vor dem persönlichen Kontakt mit einem Lektor oder, im weiteren Verlauf, bis zu Lesungen durch eine jugendliche Darstellerin? Sobald das Werk aber etabliert ist, sollte es zum Outing kommen (...). (1) Es wird also für möglich gehalten, dass das klappen könnte. Der Literaturbetrieb habe es ja gar nicht anders verdient, wenn es ihm so sehr auf die Verkaufzahlen ankomme und nicht darauf, qualitativ gute Literatur herauszubringen.

Und, in der Tat, es scheint zu funktionieren. Meine geniale Freundin von Elena Ferrante (unten angehängt) ist vermutlich nach diesem Strickmuster geschrieben und promotet worden. Zwar verbirgt sich hier die vorgebliche Autorin (Interviews mit ihr können nur per Email geführt werden und über ihr Aussehen ist nichts bekannt), aber aus zu diesen Themen gemeinhin gut unterrichteten Kreisen kann man erfahren, dass es sich bei der Verfasserin um ein Drehbuchteam aus ehemaligern Linken aus Rom handle (2), das das Buch nach einer Bestsellerformel organisiert habe (3). Die Runde im Literarischen Quartett am 26.08.2016 (siehe die Anmerkungen unten) war sich einig, dass es sich um ein reines Marketingprojekt handle, das - in Deutschland im Suhrkamp Verlag erschienen - suggeriere, es handle sich dabei um ernsthafte Literatur und nicht, was es tatsächlich sei, um Trivalliteratur für Menschen, die eher wenig lesen und das Gefühl vermittelt bekommen sollen, sie würden sich durch seine Lektüre bilden. Modicks Verdienst, um auf ihn zurückzukommen, besteht darin, dass er bereits vor einigen Jahren diese Entwicklung des Literaturmarktes vorausgesehen und in sein in weiten Teilen Schmunzelbuch eine präzise Analyse der entsprechenden Marktmechanismen hineingeschmuggelt hat.

Für Modick war das - aus der Perspektive des Jahres 2007 - Zukunftsmusik. Sein Vorbild in der Realität war Der Fall George Forestier (@Wikpedia). Ein deutscher Verlagsmanager hatte in den frühen fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, zunächst am Inhaber vorbei, durch einen Mittelsmann dem eigenen Verlag seine selbstverfassten Gedichte als die eines vorgeblichen Deutsch-Elsässers angeboten, der zuerst in der deutschen Wehrmacht gegen Russland und später, um seiner Hinrichtung als Kollaborateur mit den Nazis zu entgehen, in der französischen Fremdenlegion in Indochina gekämpft hatte, wo er als vermisst gemeldet worden sei. Der erste Gedichtband, Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße, löste in Verbindung mit der kolportierten erfundenen Biographie des vorgeblichen Verfassers eine regelrecht Lyrikwelle in der deutschen Nachkriegsliteratur aus, nachdem viele Schriftstellerkollegen ebenso wie die Rezensenten der meisten Tageszeitungen die Gedichte über den grünen Klee gelobt hatten, bis zur Enttarnung des Verfassers, die dann einen veritablen Literaturskandal ausgelöst hatte.

Gerade dadurch, dass Modick sich auf Forestier - und nicht auf gutaussehende Weiblichkeit allein - bezieht, verdeutlicht er, wie stark die Identifkationsbedürfnisse der Leserschaft die Rezeption von Literatur beeinflussen (4), und wie leicht sie sich durch den Literaturbetrieb manipulieren und in bares Geld verwandeln lassen. Die Gesellschaft tut sich nicht leicht damit, und der Artikel aus dem Spiegel zum Aufdecken der Identität von George Forestier aus dem Jahr 1955 (5) ist heute noch genau so interessant zu lesen, wie ein Artikel aus dem Freitag zum fünfzigjährigen Erscheinen von Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße aus dem Jahr 2002 (6). Und so ist Bestseller bis heute ein aktuelles Buch, vielleicht sogar noch aktueller als im Jahr seines Erscheinens, als es noch als gut ausgedachter Scherz wahrgenommen werden konnte. Ein trotz des ernsten Hintergrunds amüsantes Lesevergügen ist garantiert.

05.09.2016 - Joachim Tiele

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(1) http://www.literaturcafe.de/wo-bleiben-altenromance-und-altenliteratur/#comment-20282

(2) Maxim Biller im Literarischen Quartett vom 26.08.2016, zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Rezension in der ZDF Mediathek zu finden unter http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2820494/Das-Literarische-Quartett-vom-26.08.2016#/beitrag/video/2820494/Das-Literarische-Quartett-vom-26.08.2016

(3) Mara Delius in der gleichen Sendung

(4) Zu den Identifikationsbedürfnissen der Nachkriegsgeneration etwa: "Die Mystifikation und die Exotik dieses Lebens bediente die Erwartungen der mit eigenen Kriegserlebnissen belasteten Leser und Kritiker der 1950er Jahre und diente ihnen als Projektionsfläche für eigene Gefühlslagen." - zitiert aus dem Wikipedia-Artikel zu George Forestier.

(5) Der Spiegel vom 05.10.1955: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41960454.html

(6) Der Freitag vom 13.12.2002: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/brennend-heisser-wustensand

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