Das Hörbuch trägt den Untertitel: "Kristín Steinsdóttir erzählt das Island ihrer Kindheit". Das mag sich zunächst etwas holprig anhören - aber genau das ist es: Kristín Steinsdóttir erzählt vom Island ihrer Kindheit, liest nicht vor, folglich wurden auch kleine Unsicherheiten, kurzes Zögern, nicht unbedingt herausgeschnitten. Wenn die Autorin - die im Übrigen sehr gut Deutsch spricht - einmal nach dem richtigen Wort suchen muss, führt das manchmal zu reizvolleren Umschreibungen, als es das korrekte Wort hätte sagen können. (Was beweist: Es gibt manchmal tatsächlich einen gewissen Charme jenseits der korrekten Grammatik!)
Kristín Steinsdóttir ist in einer Familie aufgewachsen, in der viel erzählt wurde. Schon aus recht praktischen Beweggründen wurde dem Erzählen der Vorzug gegenüber dem Vorlesen gegeben: Derjenige, der erzählte, hatte die Hände frei, um dabei Haus- oder Handarbeiten zu verrichten. Obwohl Erzählen also nichts Neues für sie ist, war Kristín Steinsdóttir nach eigenem Bekunden sehr skeptisch, als die Idee zu diesem Hörbuch an sie herangetragen wurde. Ob "so etwas" überhaupt verkäuflich sein könnte?! Ohne Manuskript, einfach frei von der Leber weg erzählen, was ihr so erzählenswert erschien?! Damit, dass das Hörbuch im April 2011 sogar (von der Jury von hr2) zum Hörbuch des Monats gewählt werden würde, hatte sie also wohl am allerwenigsten gerechnet.
So erzählt sie nun also einem deutschen Publikum von ihrer Kindheit und Jugend in den 50-er und 60-er Jahren in Seyðisfjörður. Der Ort im Osten Islands ist am Ende eines 17 Kilometer langen Fjords gelegen, in den durch seine Lage zwischen zwei Bergen fünf Monate im Jahr kein Sonnenlicht dringt, der aber durch mehrere "Heringsmärchen" - reichhaltige Fänge - zum Handelsplatz aufblühte. Dem Titel gemäß beschäftigt sich ein großer Teil ihrer Erinnerungen mit Fisch und dessen Verarbeitung: Dass der Fisch unberechenbar sei, heißt es in ihrer Heimat, "wie Frauen": Man weiß nie, wie er sich verhält; wann er sich in großen Schwärmen einfindet und wann er ausbleibt. Wie in den Hoch-Zeiten der Fänge jede verfügbare Arbeitskraft - auch die Kinder - zu jeder Tag- und Nachtzeit zum Hafen gerufen wird, um dort die Fänge von den einlaufenden Booten zu verarbeiten. Darüber hinaus von dem deutschen Zahnarzt (der vielleicht gar kein Arzt war), der sich eines Tages mitsamt Familie und Behandlungsstuhl im Ort niederlässt und vor dem die Kinder sehr bald sehr großen Respekt empfinden ... von den Filmvorführungen in einer verfallenen Baracke (Kaserne), in deren Genuss die Kinder sich auch ohne gültige Eintrittskarte zu bringen wissen ... über die Zeit des zweiten Weltkriegs und einen von Deutschen Kampfflugzeugen versenkten Tanker, der Jahre später für eine Ölpest sorgt ... über die 13 isländischen Weihnachtsmänner, die allen Kindern Angst einjagen …
Das ist ein Buch nicht nur für den wahrscheinlich recht überschaubaren Teil der Menschen, die immer schon mal wissen wollte, wie man Heringe am effektivsten ausnimmt. Neugierig sein sollte man auf Island - oder allgemein für Lebensweisen, die sich von unserer/unseren in Deutschland des Jahres 2012 deutlich unterscheiden. Kristín Steinsdóttir erzählt farbig und lebendig, ohne zu verklären oder zu romantisieren, lässt einen teilhaben an ihrer Begeisterung und Freude, aber auch an Wut, Angst und Trauer. So schafft sie es tatsächlich, den Hörer mit ins Island ihrer Jugend zu nehmen.
PS: Wenn ich wieder mal über "unsere dunkle Jahreszeit" schimpfen will, denke ich ab jetzt hoffentlich an Seyðisfjörður und freue mich, mit wie viel Sonnenlicht wir hierzulande doch im Winter gesegnet sind :-)