Cover des Buches Zerrissene Leben (ISBN: 9783806237870)
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Rezension zu Zerrissene Leben von Konrad Jarausch

Die Vergangenheit geht jeden an!

von Igelmanu66 vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Die Vergangenheit geht jeden an! Diese kollektive Biographie den Leser nicht kalt und zwingt ihn zum Nachdenken.

Rezension

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Igelmanu66vor 6 Jahren

»Viele Nationalisten waren hocherfreut, als Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannte. Aber die Linken hatten bereits eine düstere Vorahnung, dass die Nationalsozialisten nun die Macht an sich reißen würden. Die 16-jährige Eka Assmus rief, als sie die Neuigkeit erfuhr, aufgeregt: „Onkel Hans sin Führer is nu dran!“ Als SS-Mitglied bereitete sich ihr Verwandter schon auf einen Fackelzug zur Feier des Sieges vor, während eine Nachbarsfrau sich beeilte, die Hakenkreuzfahne zu hissen. Ein anderer „alter Kämpfer“ war außer sich vor Freude: „Die Begeisterung trieb ihm Tränen in die Augen. Kam da der neue Erlöser?“ Aber in Leipzig sahen zwei junge Kommunisten „verwundert … unzählige Nazis in endlosen Kolonnen vorüberziehen“. Sie erwarteten eine Aufforderung zum gewaltsamen Widerstand, „doch niemand kommt, nichts geschieht“. Der junge Jude Frank Eyck spürte instinktiv, dass von diesem Tag an „meine Eltern mich nicht mehr beschützen konnten. Die sorgenfreie Atmosphäre der Kindheit war verschwunden. Nicht konnte [jetzt noch] für selbstverständlich genommen werden.«

Wenn man sich das 20. Jahrhundert in Deutschland anschaut, dann stellt man eine Aneinanderreihung dramatischer Ereignisse, schwerer Zeiten und drastischer Veränderungen fest. Speziell wer in den 1920er Jahren geboren wurde, musste erkennen, dass das Leben nicht so verlief, wie erwartet oder erhofft.

Für dieses Buch hat Konrad Jarausch rund 80 Autobiographien von Weimarer Geburtsjahrgängen ausgewertet. Das Besondere dabei: Es handelt sich nicht um die Lebenserinnerungen von Promis, sondern um die ganz normaler Menschen, was einen Blick auf das Alltagsleben erlaubt. Zudem, und fast noch wichtiger: Es sind praktisch sämtliche Bevölkerungsgruppen vertreten. Männer, Frauen, Arbeiter, Bürger, Arme und Reiche. Es finden sich Katholiken, Protestanten und Juden, Bewohner des Westens, der Ostgebiete oder aus Berlin. Speziell in der Nazizeit konnte man die Menschen in Täter, Opfer und Zuschauer unterteilen, entsprechend liest man auch von HJ-Führern und BDM-Mädels, von Widerständlern, Emigranten und Flüchtlingen, Überlebenden des Todesmarschs und SS-Tätern in Auschwitz. Das beeindruckende Ergebnis dieser Aufarbeitung ist eine kollektive Biographie, die gerade durch ihre vielen Perspektiven ein gutes Gesamtbild liefert.

Gemeinsam mit den verschiedenen Protagonisten erlebt der Leser eine Kindheit in der Weimarer Republik, die Weltwirtschaftskrise und den Aufstieg der Nazis, eine Jugend in Kriegsjahren und das Leben der Erwachsenen in der Nachkriegszeit. Doch geht es noch weiter, da die Autobiographien in den 1990er Jahren geschrieben wurden, umfassen sie auch Wiederaufbau, Beginn der Demokratie, Neuorientierung, die DDR und das SED-Regime, kalten Krieg, Mauerbau und –fall und die Wiedervereinigung.

Nun muss man Erinnerungen, gerade wenn viele Jahre vergangen sind, mit ein wenig Vorsicht genießen. Einiges wurde vergessen oder verdrängt, es gibt Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen, subjektive und selektive Darstellungen. Auch hier zeigt sich wieder der Vorteil der kollektiven Biographie, die solche Schwachstellen relativiert. Die Schilderungen stellten nicht wenige Autoren vor das Problem, positive Erinnerungen, wie z.B. schöne Zeiten in der HJ mit den schlimmen Folgen zusammenzubringen. Immer wieder zeigt sich Desillusionierung, weil das, woran man geglaubt hat, falsch war.
»Ich erkannte, dass ich dem Bösen die Treue gehalten hatte.«
Viele Erinnerungen schildern großes Leid, das ist ungemein intensiv und berührend zu lesen. Für einige Passagen habe ich ziemlich lange gebraucht, weil ich nicht einfach weiterlesen konnte, sondern das Gelesene erst man durchdenken musste.

Ein nicht unerheblicher Teil des Buchs befasst sich mit der DDR-Geschichte, hier erinnert sich ein Ostdeutscher beispielsweise an ein Leben »von Diktatur zu Diktatur«. Auch dieser Teil wird gründlich aufgearbeitet und von vielen Seiten beleuchtet. Ergänzt um diverse geschichtliche Infos wird aus vielen individuellen Erzählungen von Überleben und Neuanfang, Erinnern und Vergessen, eine große Geschichte. Eine Reihe eingestreuter, teils privater, Fotos intensiviert den Gesamteindruck noch weiter. Im umfangreichen Anhang finden sich zu den einzelnen Autoren Kurzbiographien.

In fast jeder deutschen Familie gibt es Geschichten über zerrüttete oder verlorene Leben, die Vielfalt der Erzählungen macht eine Identifikation möglich. Meine Familie gehörte zur Arbeiterklasse und wenn ich die entsprechenden Passagen lese, frage ich mich, was ich getan hätte. Wäre ich mutig genug zum Widerstand gewesen oder hätte ich konzentriert auf die eigene Armut und das eigene Überleben die wahren Opfer übersehen, verdrängt oder nicht wahrgenommen? Ich weiß es nicht und niemand, der nicht in dieser Situation war, kann das wirklich wissen. Aber wichtig für unser aller Zukunft ist es, sich immer wieder mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, damit sich solche schrecklichen Ereignisse nicht wiederholen.

Fazit: Die Vergangenheit geht jeden an! Packend und intensiv geschrieben, lässt diese kollektive Biographie den Leser nicht kalt und zwingt ihn zum Nachdenken.

»Wenn Deutschland neu anfangen will, dann müssen die Deutschen lernen, zu ihrer Vergangenheit zu stehen, wie auch immer der einzelne sich in dieser Zeit verhalten haben mag.«

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