Kennen sie das meistgelesene Buch der Welt? Die Bibel. Über tausend Jahre Schriften versammelt in einem Wunderwerk. Wie konnte aus diesem Sammelsurium ein Buch entstehen. Konrad Schmid und Jens Schröter legen hier einen riesigen geschichtlichen Abriss der Entstehung der Bibel sowohl aus christlicher als auch aus jüdischer Perspektive vor.
Das Buch ist im Hardcover gebunden und übersichtlich in acht Abschnitte eingeteilt. Ein riesiger Fundus an Literaturempfehlungen zu den einzelnen Kapiteln sowie ein sehr großes wundervoll aufbereitetes Bibelstellen-. Autoren- und Schriften- sowie Namen- und Sach-Register komplettieren das Werk.
Das Buch hat den Anspruch nicht nur für den Wissenschaftler lesbar, sondern allgemeinverständlich geschrieben zu sein. Das gelingt, auch wenn sich das Buch nicht flüssig, wie ein Roman lesen lässt, sondern eher zum Selbststudium und kritischem Bibellesen geeignet ist. Es ist weiterhin eine wissenschaftliche Abhandlung und daher auch teils trocken zu lesen.
Die Autoren beginnen mit einer Einführung: Was die Bibel ist? Und wie sie sich gliedert. Es folgen die zeitgeschichtliche historische Entstehung der Schriftkultur und die Literaturproduktion in der Königszeit von 10. Jhd. v.Chr. bis 6. Jhd. v.Chr., Die Entstehung des Judentums von 6. bis 4. Jhd. v.Chr. in der babylonischen und persischen Zeit, Die Schriften und der Schriftgebrauch im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit im 3. Jhd. v. Chr. bis 1. Jhd. n.Chr., Die Schriften des antiken Judentums im entstehenden Christentum im 1./2. Jhd., die Formierung der christlichen Bibel und die Entstehung weiterer Traditionsliteratur im 1. bis 4. Jhd., die Formierung der jüdischen Bibel und die Entstehung von Mischna und Talmud im 1. bis 6. Jhd. und schließlich die Wirkungsgeschichte der jüdischen und christlichen Bibel.
Es wird klar, dass die christliche Bibel nicht ohne die jüdische Bibel erklärt werden kann. Gemeinsame Geschichte und sich gegenseitig beeinflusst. Sie sind über mehrere Jahrhunderte und in unterschiedlichen geographischen Zusammenhängen – von Babylon über Jerusalem, Antiochia und Alexandria bis nach Rom - entstanden. Das bedingt verschiedene geschichtliche Kontexte, verschiedene Sprachen und Zusammensetzungen, Umfänge und Anordnungen. Dies entsteht aus und bedingt verschiedene Konfessionen und eine Vielzahl an christlichen Kirchen.
Zum Verständnis der Bibel gehören Schriften, die heute als Apokryphen oder Pseudepigraphen bezeichnet werden und deren Geschichte ist damit eine des Verhältnisses von biblischen zu nichtkanonischen Schriften. Dem folgen verschiedene Auslegungsprozesse in Texten, mündlichen Überlieferungen, bildlichen Darstellungen und rituellen Vergegenwärtigungen. Also nicht nur Überlieferung und Sammlung, sondern auch Wirkungsgeschichte und Prägung von Ethik und Kultur in verschiedenen Kulturkreisen. Sie entstand im 1. Jahrtausend vor Christus bis in den ersten zwei Jahrhunderten nach Christus. Im Gegensatz zum Bibeltext haben sich die Bibel und deren Schriften erst allmählich entwickelt und das Christen- und Judentum keineswegs ausschließlich durch heilige Texte geprägt.
An sich gibt es die Bibel gar nicht sondern es existieren Bibeln seit jeher in unterschiedlichen Umfängen, Anordnungen und Sprachen und aus vielen verschiedenen Büchern. Die Bibel als Sammlung der verbindlichen autoritativen Schriften von Judentum und Christentum ist demnach nicht nur Glaubensgrundlage, sondern auch Zeugnis ihrer gemeinsamen und ihrer je eigenen Geschichte, die sich bis in die Gegenwart fortführt. Biblia heißt übersetzt Bücher und die Bibel ist somit ein Buch mit einer Sammlung aus vielen Büchern oder eine Bibliothek, welche damals zuerst in Rollen vorlagen.
Neben den Schriften Israels und des Judentums treten im Christentum eigene Texte, die verbindlichen Charakter erlangen. Deutende Erzählungen über das Wirken Jesu, Briefe frühchristlicher Gemeinden und weitere Schriften, welche die Geschichte Gottes mit Israel von seiner Offenbarung in Jesus Christus her deuten. So entstehen allmählich das Neue Testament welche gemeinsam mit dem Alten Testament die Bibel des Christentums bilden wird.
Das Alte Testament besteht i.d.R. aus mindestens 39 Schriften, das Neue Testament aus 27 Schriften – die Bibel also aus 66 Büchern, wobei die Zählungen variieren. U.a. kennt der äthiopische Bibelkanon 81 Bücher, wobei die Zahl aber nicht die Auswahl fest umrissen ist. Bis heute gibt es keine feste Grenze zwischen kanonischen und nichtkanonischen, biblischen und nicht biblischen Schriften.
Die Apokryphen oder in orthodoxen und römisch-katholischen Kirchen auch kanonische bzw. deuterokanonische Schriften genannt, bestehen u.a. aus den Büchern Judit, Weisheit, Tobias, Sirach, Baruch, dem 1. Und 2. Makkabäerbuch, Zusätzen zu den Büchern Daniel und Ester sowie dem Gebet des Manasses. Deren Geschichte und Entstehung beschreiben die Autoren ebenso.
Ungeachtet aller Unterschiede teilen Christentum und Judentum die Überzeugungen der Schriften. Der Gott Israels als Schöpfer des Himmels und der Erde; die Überzeugung der Erwählung Israels und Gottes Führung dieses Volkes durch die Geschichte; Gott als Person, durch die man im Gebet Trost und Hilfe erwarten Leid klagen und mit der man streiten kann und ein wöchentlicher Feiertag u.v.a.
Im Judentum wurde die Vorstellung ausgeprägt, dass es eine zweite göttliche Gestalt nämlich den Menschensohn gibt, auf der das Christentum sein Verhältnis von Gott und Jesus entfalten konnte.
Die Schriften entstanden nicht als Bibelkanon, sondern in bestimmten Situationen der Geschichte Israels, des Judentums und des frühen Christentums, um Traditionen zu bewahren, Geschichte zu deuten oder Weisungen für ein Leben nach dem Willen Gottes zu formulieren. Die Schriften wurden erst im Laufe der Zeit biblisch. Buchwerdung, Literaturgeschichte und Kanongeschichte der Bibel decken sich nicht, aber sie überschneiden sich. Die Texte wurden während des ersten vorchristlichen Jahrtausends aufgezeichnet, gesammelt, zusammengestellt, redigiert und schließlich kanonisiert. Zur Schriftreligion wurde das Judentum erst nach der Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n.Chr. Eine scharfe Trennung zwischen biblischer und nichtbiblischer Literatur gab es bis dahin nicht, da es die Bibel nicht gab.
Es gibt einige Texte, die nachweisbar aber nicht mehr vorhanden sind, auch wenn sie fiktiv erscheinen. Eingang in die Bibel in der Königszeit haben Schriften gefunden, die sich als Gebrauchstexte im Jerusalemer Tempel und seiner Tempelschule als Heilige Schrift durchgesetzt haben. Da war die Ausbildung der Schriftkultur und des Schreiberwesens verortet. Die ältesten Texte der Bibel sind nicht vor dem 9./8. Jahrhundert v.Chr. aufgeschrieben worden. Viele der Texte sind jedoch älter und in Erzählungen, Liedern, Sprüchen oder Rechtssätzen in einer mündlichen Überlieferungsgeschichte weitergegeben wurden. Eine Rekonstruktion dieser ist in der Regel schwer zu fassen. Die Bibel ist nicht nur Text, sondern Text und Kommentar in einem.
Bibelübersetzungen gibt es seit den Anfängen der Bibel und die wichtigsten werden in diesem Buch erwähnt. Aramäisch, Hebräisch und Griechisch als die wichtigsten. Die Septuaginta, die Vetus Latina, die Vulgata, veritas Hebraica, der Codex Sinaiticus, der Codex Vaticanus und der Codex Alexandrinus. Die älteste deutschsprachige Bibel entstand um 1300 bis 1320 in Zürich. Es gab immer wieder Debatten und Auslegungen welcher Bibelübersetzung man den Vorrang gibt oder sein eigenes Kompendium anlegt. Wichtige Übersetzer und interpretierende Theologen sind Origenes, Philo, Hieronymus, Irenäus, Klemens von Alexandria, Tertullian, Erasmus von Rotterdam bis zu Martin Luther und Zwingli oder die King James Bible. Aber auch uns oft unbekannte Übersetzungen wie der syrischen Peschitta oder eine gotische Bibelübersetzung werden genannt.
Die jüdische Bibel wurde seitdem 3. Jhd. sukzessive ins Griechische übersetzt und das Neue Testament wie auch jüdische Schriften hatten hauptsächlich griechische Quellen gehabt. Erst im 4. Jhd. kam es zu den ersten Vollbibeln aus Altem und Neuem Testament.
Eine Kapiteleinteilung und Zählung sowie Nummerierung der Verse wurden erst sehr spät im 13. Und 16. Jahrhundert eingeführt. Die alten Schriften sind im Fließtext geschrieben. Die Bibel vernetzt die Texte so in komplexer Weise miteinander.
Ein Beispiel dafür ist die Rewritten Bible- Literatur. Die Chronikbücher erzählen den Inhalt der Bücher Genesis bis 2. Könige noch einmal aus eigener Perspektive. Eine innerbiblische Schriftauslegung. Analog den Evangelen und der Jesusgeschichte. Matthäus- und Lukasevangelium sind Neuausgaben des Markusevangeliums. Hier fehlt natürlich nicht die Nennung der unbekannten Quelle Q, aus der wohl Matthäus und Lukas unabhängig voneinander Texte nutzen. Das Johannesevangelium stellt sich mit einer theologisch pointierten Erzählung mit Jesus als fleischgewordenem Logos – in ihm ist der göttliche Logos ein irdischer Mensch geworden – noch einmal daneben oder über die drei Synoptiker. Es gibt noch weitere Rewritten-Bible Literatur. Die Neuerzählungen gaben Verbindlichkeit einerseits und passten sich an veränderte Situationen an und machten somit die Geschichte Israels bzw. des Judentums fruchtbar.
Spannend auch für heutige Kontexte ist, dass der Glaube an Jesus Christus die Grenzen zwischen Juden und Heiden aufgehoben hat – dies vollzog sich in den frühen christlichen Gemeinden Antiochia und Jerusalem. Das gab es so vorher in den Gemeinden noch nicht. Die christlichen Schriften richten sich somit an Juden und Nichtjuden.
Das führt zur Frage wieso christliche und jüdische Sicht letztlich in Konkurrenz getreten sind und sich eine zweifache Auslegungsgeschichte auch der Bibel entwickelt hat. Es folgt ein spannender Diskurs. Treffend finde ich hier die Metapher „eines Hauses mit verschiedenen Räumen, von denen einige untereinander verbunden sind, oder, in Anlehnung an Paulus, das Bild eines Baumes mit einer gemeinsamen Wurzel und verschiedenen Zweigen.“
Neben der christlichen bekommt auch die jüdische Bibel mit der Tora, den Propheten und der Ketuvim, Mischna und Aggada einen großen Platz. Diese ist im Text und ihren Büchern viel mehr fixiert, was u.a. auch zu den Gegensätzen führte.
Das Wirken des Juden Jesu bildete den historischen Ausgangspunkt für die Entstehung des christlichen Glaubens. Zur Zeit Jesu war Jerusalem das politische und religiöse Zentrum des gesamten Judentums. Es gibt spannende Kontroversen mit den Pharisäern, Sadduzäern und den Schriftgelehrten sowie dem Hohen Rat von Jerusalem. Jesu ging es hauptsächlich um einen lebenspraktischen Vollzug der Schrift und ein Ethos der Mitmenschlichkeit. Es handelt zugunsten seines Volkes und deren Heil. Die Bewahrung und Weitergabe der Überlieferungen vom Wirken und der Lehre Jesu führte zur Abfassung der Evangelien. Vier davon – und das war nicht selbstverständlich – sind im Bibelkanon erhalten. Es sind die Ältesten und diese stehen auch in literarischer Beziehung zueinander. Spannend sind hier mythische Geschichten wie z.B., dass es vier sind aufgrund der vier Weltgegenden und den vier Hauptrichtungen des Windes. Weitere, u.a. zur Kindheit Jesu oder das Protevangelium/ Geburt Marias sind in den Apokryphen. Jesus selbst hat übrigens nichts Schriftliches hinterlassen, sondern nur seine Lehre mündlich vorgetragen! In der Geschichte bis heute passiert das in Lieddichtungen, Katechismen und Gebeten und Ritualen sowie künstlerischen Darstellungen in Bildern und Musik.
Die Formierung und Anordnung des neutestamentlichen Korpus sind auch sehr eindrucksvoll beschrieben. Wie ist die Bibel auszulegen. Wortwörtlich oder anhand der Parabeln und Allegorien? Vielleicht trägt die Digitalisierung dazu bei, dass die Bibel nicht als fixierte Textgestalt erfahren wird, sondern einer flexibleren Sicht gilt und in der heutigen Zeit weitergedacht wird. So kann aus Theologie/ Orthodoxie gelebte Praxis/ Orthopraxie werden. Vielleicht auch noch mehr im Protestantischen Gottesdienst. Die Freikirchen machen es vor!
Die Bibel - die Offenbarung Gottes als von Menschen gedeutete und niedergeschriebene Erfahrung. Unterscheiden sie zwischen der Heiligen Schrift und Gottes Wort. Die Bibel enthält zwar letzteres ist aber nicht mit diesem gleichzusetzen. Sie enthält eine Vielzahl theologischer und ethischer Sichtweisen, die sich ergänzen, bestätigen, korrigieren oder auch widersprechen. Sie hat ein reiche Wirkungs- und Auslegungsgeschichte. Historische Kritik verhindert ein vorschnelles und unreflektiertes Berufen auf die Bibel und Losungen. Trauen sie sich da hinein – durch Lektüre und Klangerlebnisse, Kunst und Interpretation!
Ein wundervolles Werk. Bereits jetzt ein Grundlagenwerk der Bibelforschung für den Laien und den Wissenschaftler in verständlicher Sprache! Halleluja!
Die Bibel – nicht einfach ein historisches Zeugnis – sondern lebendiges Gotteswort, das in die Gegenwart spricht und die Zukunft voraussagt. Bringen sie diese in der Gegenwart in Geltung!
5-mal Amen, Amen! Halleluja!
„Quellen schützen uns vor Irrtümern, nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen.“ Reinhart Koselleck