Ich habe Chan Koonchungs Roman “Die fetten Jahre” bewußt zum Lesen ausgewählt. In Vorbereitung eines Arbeitsaufenthalts durchforstete ich die online Portale nach deutschen Ausgaben chinesischer Autoren.
Die Handlung des Romans spielt in einer nahen Zukunft, die wir im Jahr 2020 zumindest in Bezug auf die Jahreszählung als bereits vergangen ansehen müssen. Der Rahmen der Handlung wird durch eine wirtschaftliche Lage beschrieben, in der China aufgrund kluger wirtschaftlicher Analysen und Bewertungen die Weichen der Entwicklung erfolgreich stellte, während die westliche Welt Opfer der 2008 beginnenden Wirtschaftskrise wurde. Die Menschen in China sind glücklich und leben entspannt, gehen ihren täglichen Geschäften nach und profitieren von der Prosperität. So auch der Hauptheld, der pensionierte Journalist und Schriftsteller Chen. In kurzen Abständen trifft er auf alte Bekannte, die das Leben anders sehen. Er lässt sich anfangs nicht durch deren verstörend wirkende Erzählungen beeinflussen, die darauf hindeuten, dass der Übergang aus der Krisenzeit in die Zeit der Prosperität gar nicht so reibungslos vonstatten ging wie aus der offiziellen Diktion hervorgeht. Die Begegnung mit seiner Jugendliebe Xiaoxi allerdings verändert sein Verhalten. Er begibt sich auf die Suche nach Beweisen für deren Behauptungen.
Das Buch besitzt eine romanhaft angelegte Handlung, die durch reportagenhafte Passagen durchbrochen wird. Man erfährt Dinge, die durch die westliche Berichterstattung nicht beachtet werden, z. B. über die Entwicklung christlicher Gemeinden, die mehr und mehr Zulauf erhalten. Diese werden von der Regierung toleriert und in einigen geschilderten Sachverhalten sogar als wichtiger Seismograph für die Stimmung in bestimmten Bevölkerungsgruppen angesehen.
Weder die Gruppe der Dissidenten, noch der den Staat repräsentierende hohe Funktionär werden im Buch in irgendeiner Form polarisiert. Ganz im Gegenteil, der Versuch der Dissidenten sich als die Guten zu definieren, scheitert an der offenen und Verantwortung zeigenden Haltung des gekidnappten Funktionärs.
Sehr interessant und tagesaktuell finde ich die Betrachtungen über die Freiheit. Was sollte man bevorzugen, die 90%ige Freiheit des wirtschaftlich prosperierenden Chinas mit Lenkung von Oben oder die noch 95%ige Freiheit des Westens, in der sich das Individuum mehr und mehr aufgrund wirtschaftlicher Unsicherheit seiner wahren Meinung enthält?
Chan Koonchung erzählt eine Geschichte, einerseits typisch chinesisch, andererseits allgemein menschlich, denn in Zeiten wirtschaftlicher Stabilität leben die Menschen durchaus zufriedener. Die Manipulation durch die Machtelite wird leichter ertragen. Das Phänomen, dass sich niemand mehr an die schlimme Übergangszeit erinnern kann, kann auch nicht von dieser Elite vollständig aufgeklärt werden. Niemand kennt die Gründe für die kollektive Verdrängung, aber das Ergebnis wird gerne angenommen.