Viele Länder haben ein Nationalepos, das tief in Geschichte und Kultur des jeweiligen Landes verwurzelt ist. Deutschland hat das Nibelungenlied, England die Artussage, Frankreich das Rolandslied, Island die Edda, Italien die Göttliche Komödie, die Schweiz hat Wilhelm Tell und Georgien hat mit Data Tutaschchia ebenfalls ein Nationalepos und einen Volkshelden. Tutschchia ist ein Abrage, eine Art Gesetzloser, der kurz vor der russischen Revolution durch den Kaukasus zieht. Der Held der Geschichte wird häufig mit Robin Hood verglichen. Ähnlichkeiten gibt es sicherlich, vor allem das moralische Verhalten, das Eintreten für Schwächere und das Verurteilen von Ungerechtigkeit. Tutaschchia muss sich zeitlebens vor den Häschern des Zaren verstecken. Angeführt werden diese von seinem Alter Ego, seinem Cousin und visuellem Doppelgänger Muschni Sarandia.
Der Roman wird aus der Sicht des Gendarmen Graf Szegedy erzählt, der wiederum viele Personen interviewt hat, die zeitweise Data Tutaschchia begleitet bzw. getroffen haben. Der Roman liest sich also ein wenig wie eine Kriminalakte mit verschiedenen Zeugenaussagen. So entsteht eine multiperspektivische Erzählung in dessen Mittelpunkt die moralische Entwicklung des Abragen Tutaschchia steht. Überall wo Data hinkommt, sieht er das Übel der Welt, das ungerechte, ausbeuterische, korrupte, egoistische und leidverursachende Handeln der Menschen. Da er selbst ein sehr rigides Gewissen hat und festen moralischen Werten folgt, beginnt er an der Welt zu verzweifeln. Anfangs versucht er noch in die Geschehnisse einzugreifen und sie gerechter zu gestalten oder zumindest das Unrecht zu beenden. Mit präziser psychologischer Beobachtungsgabe schildert Amiredschibi wie ihm diese Bemühungen misslingen da die Opfer der Ungerechtigkeiten gar nicht an seinen Hilfen interessiert sind oder das Unrecht einfach umkehren und Tutaschchias Hilfe dazu nutzen nun selbst zu unterdrücken.
Politisch-philosophischer Abenteuerroman
Als Konsequenz entscheidet sich der Flüchtende künftig gar nicht mehr in gesellschaftliche Prozesse einzugreifen. Egal, was geschieht und wie ungerecht es auch zugehen mag. Angesichts seiner neuen Gefühllosigkeit und seinem Desinteresse wenden sich die Menschen von ihm ab und vergessen seine früheren guten Taten. Mehr noch, die Stimmung schlägt um, und man wendet sich gegen ihn. Auf seiner persönlichen Odyssee durch die gesellschaftlichen Wirrungen und die Zeit der Vorrevolution beginnt Tutaschchia sich nun wieder in die gesellschaftlichen Belange einzumischen. Jedoch nicht, um die Gesellschaft besser zu machen oder sich gegen die „russischen“ Besatzer zu wehren, also anders als die Akteure der Revolution, sondern um seinen eigenen Weg bestmöglich zu gehen. In diesem Abschnitt werden zahlreiche philosophische bzw. politische Debatten geführt, die die unterschiedlichen Perspektiven und Beweggründe der Menschen führ ihre Handlungen beleuchten. Auch und gerade hier zeigt sich, mit welch grandioser Beobachtungsgabe Tschabua Amiredschibi seinen Roman geschrieben hat. Ohne in Anklagen oder Plattitüden zu verfallen, wird der Zeitgeist seziert und diskutiert. Dabei schafft es Amiredschibi die großen Fragen der Menschen, der Gesellschaft – ja vielleicht der Menschheit – zu erörtern und gleichzeitig die Geschichte spannend voranzutreiben.
Konfrontiert mit der Brutalität und Willkür des zaristischen Regimes entscheidet der Gesetzlose, dass das Böse in der Welt nur mit Gewalt besiegt werden kann. Und wie es sich für ein Epos gehört, kulminiert hier die Auseinandersetzung mit seinem Cousin, dem Vertreter der russischen imperialistischen Gendarmerie. Die Cousins sind außergewöhnlich schlau, gleichen sich äußerlich bis ins Detail und dennoch sind sie gänzlich unterschiedliche Wege gegangen. Im Wettkampf der moralischen Systeme erreicht die Geschichte ihren Höhepunkt und Tutaschchia erkennt letztlich, dass das Böse im Menschen doch nur durch die gute Tat gebannt werden kann.
Weltliteratur aus Georgien
Amiredschibi hat mit Data Tutaschchia nicht nur einen georgischen Volkshelden erschaffen und einen fulminanten Abenteuerroman geschrieben, sondern zugleich auch ein Nationalepos begründet und ein großartiges Gesellschaftsdrama verfasst, das alle Bestandteile eines Jahrhundertwerks beinhaltet. Das Werk ist in Georgien und anderen russischsprachigen Ländern nicht zuletzt wegen seiner antiimperialistischen Erzählung so erfolgreich. Gerade jetzt wieder, durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gewinnt die Geschichte wieder an Bedeutung.