Cover des Buches Die Nachtigall (ISBN: 9783945733196)
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Rezension zu Die Nachtigall von Kristin Hannah

Überleben

von StefanieFreigericht vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Frankreich von Résistance bis Kollaboration: miterlebbar, nur zum Ende kitschig, kleinere Unstimmigkeiten - sonst überraschend gut

Rezension

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StefanieFreigerichtvor 7 Jahren

Wer (wie ich) in der „alten“ Bundesrepublik in den 70ern und 80ern sozialisiert wurde, tat dies zwingend auch in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. „Damals war es Friedrich“, Anne Frank, „Sophies Entscheidung“, „Napola“. Ein Einblick in andere Länder zu der Zeit? Aus der genannten Sicht gab es dort Besatzung und Widerstand, Kollaboration dabei eher ein „blinder Fleck“. „Die Nachtigall“ bringt hier diverses an die Oberfläche mit Verortung mitten im Vichy-Régime: von Vertrauen in bisherige Politiker und Ordnungsorgane über Anpassung, Widerstand und Kollaboration werden alle Reaktion auf die Situation umfasst. Was Krieg, Bezugsscheine, Schlangestehen, Hunger usw. bedeuten – die meisten von uns können es sich doch nicht mehr vorstellen und im Buch wird das alles sehr plastisch, eine große Leistung der Autorin, und bewegend geschrieben.


Dass die Umsetzung der Maßnahmen der Besatzer dabei eine derart weitgehende Teilhabe auch der französischen Polizei mit sich zog, ist zwar eigentlich sachlich zwingend, war mir aber bisher nicht bewusst – beispielhaft wird der Dorfpolizist fett, während die anderen hungern. Generell ist die Darstellung differenziert; da gibt es keine Besatzer als Witzfiguren wie in „Ein Käfig voller Helden/Hogan’s Heroes“ oder dämonisiert wie bei „Indiana Jones“, sondern genauso komplexe Persönlichkeiten wie bei den Besetzten. Der Einblick in das damalige Frankreich gelingt bedrückend und beeindruckte mich.


Die beiden Hauptpersonen sind zwei Schwestern, Vianne und Isabelle – das Buch wechselt zwischen beiden über den Verlauf des Krieges zur Perspektive von einer von ihnen als alter Frau. Während Vianne früh ihre erste Liebe heiratete, Mutter ist und zu Beginn Probleme ausblendet, dabei mit ihrer übergroßen Bescheidenheit und Duldsamkeit jedoch (eher) nicht unglaubwürdig wirkt – das dürfte immerhin dem damaligen Frauenbild entsprechen - nervte mich die jüngere Schwester Isabelle – kindisch, rücksichtslos, unvorsichtig, dumm, zickig, verzogen. Ja, sie soll die „jugendliche Rebellin“ darstellen, doch Nazi-Besatzer ohne Sinn und Verstand unbedingt provozieren zu wollen, wirkt gewollt und schlicht dümmlich -unglaubwürdig, vor allem, da sie damit Schwester und Nichte gefährdet, bei denen sie wohnt. Insgesamt bleibt sie mit ihrer kompletten Wandlung im Roman für mich die schwächere Figur, zu sehr geläutert „allein durch die Liebe“ zum Ende. Etwas weniger verzogene Göre mit Vernachlässigungskomplex zu Beginn hätte gut getan. Immerhin fehlen bei beiden peinliche Schmachtszenen (wirklich fast).


US-typisch ist leider die „Macke“, bei der Annahme eines rein französischsprachigen Umfelds gerne Fetzen einzustreuen wie „oui Madame“, „merci“ – das wirkt lächerlich, ebenso wie das permanente Bestellen von „Café au lait“ und Espresso, während gleichzeitig betont wird, dass es weder Kaffee noch Milch gebe, wie eine Puppen-Tee-Party mit der Dreijährigen, auch wenn die Ersatzprodukte genannt werden. Und natürlich wird der letzte Lippenstift gehütet – es muss ja glaubhaft für Frankreich sein. Bis auf vielleicht das letzte Zehntel meidet die Autorin weitgehend Kitsch, dann wurde es doch etwas viel Pathos und sehr versöhnliches „Gruppenkuscheln“ (ja, die Tränendrüse wirkt bei mir – leider, ich hätte ihr doch lieber nachgegeben, wenn die Autorin dem Stoff durchgängig vertraut hätte).


Ein kleineres Manko ebenso: es bleiben einige lose Handlungsfäden in der Luft flattern wie Viannes Gedenkbänder. Isabelle versteckt die zwei Kinder der jüdischen Nachbarn im Versteck in ihrem Zimmer – was wird später mit ihnen? Das Haus von Viannes Freundin und Nachbarin Rachel steht jetzt leer – nutzt das wirklich niemand, bei ihr selbst sind ja Besatzer wegen der günstigen Lage einquartiert. Die Buchhandlung wurde gestürmt und missliebige Bücher wurden geholt – die Druckerei selbst allerdings nicht? Das Ärgerliche: viele dieser „losen Enden“ wären sehr einfach entwirrbar gewesen. Rachels Haus wird auch besetzt, die Kinder der Nachbarn in Paris fliehen mit der Mutter oder werden versteckt oder später entdeckt, …


Insgesamt bleibt jedoch ein positiver Eindruck zurück (gute vier Sterne – wer dem Genre Frauenroman mehr zuneigt als ich, wird es schlicht lieben). Die Erzählung fand ich als Hörbuch sehr gut geeignet.

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