„Es gibt immer einen bestimmten Moment, um Sachen zu sagen … Ich habe deiner Mama gegenüber diesen Moment immer verpasst. Ich dachte, sie weiß es ja sowieso.“
Inhalt
Am Bahnhof der südkoreanischen Hauptstadt Seoul verschwindet die Hauptperson der Erzählung im Gedränge der Massen. Der Vater ist vorausgeeilt und hat den Zug erwischt, die Mutter blieb zurück und wird daraufhin vermisst. Die alte Frau hat zahlreiche Leiden, angefangen von rasenden Kopfschmerzen, die sie manchmal ohnmächtig werden lassen, bis hin zu ihrer fortgeschrittenen Demenz, die sie immer wieder vergessen lässt, wer sie ist, warum sie sich an einem bestimmten Ort befindet und wo sie eigentlich hin möchte. Sofort startet die Familie eine groß angelegte Suchaktion: bei der Polizei, mittels Plakaten und Handzetteln, oder einfach in dem sie alle Wege und Orte erforscht, die ihre Mutter kannte und vielleicht ein weiteres Mal aufgesucht hat. Letztlich bemühen die 5 Kinder auch noch die Notaufnahmen der Krankenhäuser, weil sie Schlimmes befürchten. Doch alles umsonst, als fast ein Jahr verstrichen ist, ohne irgendein Lebenszeichen, müssen Sie einsehen, dass ihre Frau und Mutter einfach verschwunden ist und niemals mehr zurückkommen wird …
Meinung
Dieses Buch ist eines der wenigen, welches mich ausgesprochen zwiegespalten zurücklässt. Nachdem ich reichlich die Hälfte gelesen hatte, war ich wirklich enttäuscht, denn mit der Story und den Personen konnte ich einfach nicht warm werden – meine Bewertung lag da wohlgemeint bei 3 Lesesternen. Doch dann, als endlich diejenige spricht, die vorher anscheinend nur eine fremde, unscheinbare Frau war, konnte mich der Text begeistern und berühren.
Das Tragische daran: im ersten Teil der Geschichte erzählen der älteste Sohn und seine Schwester, ebenso der Vater – die Verschwundene war immer für ihre Familie da, hat ihr eigenes Leben dem Wohl der Familie untergeordnet und blieb für Ihre nächsten Angehörigen doch nur ein Schatten ihrer selbst. Das entworfene Mutterbild hat mich schockiert und wütend gemacht. Zwar kann das auch an den Lebensumständen und dem kulturellen Hintergrund liegen, dennoch beziehe ich es auf persönliche Verfehlungen.
Insbesondere weil alle Erzähler sofort und nachhaltig in eine schier alles durchdringende Reue verfallen und erst nach dem Fortbleiben der Mutter merken, was sie nun verloren haben. Die wenigen Erinnerungsfetzen, die sie mit dem Leser teilen, weisen darauf hin, dass sie der Anwesenheit ihrer Mutter überdrüssig waren, dass sie ihr eigenes Leben führten und weder Anteil nahmen, noch zuhörten. Da aber Beziehungen immer auf Gegenseitigkeit beruhen, kam ich nicht umhin zu fragen, was die Mutter eigentlich falsch gemacht hat, dass ihre Kinder und auch der Mann so schlecht von ihr reden und denken.
Im zweiten Teil des Buches wird dann deutlich, wer die Frau eigentlich war, was Ihre Beweggründe für Entscheidungen und ihre Reaktionen auf die omnipräsente Zurückweisung derer waren, die sie hätte lieben können und umgekehrt. Es waren versöhnliche Worte, die ich zwar nicht restlos teilen konnte, die aber zeigen, dass auch die Mutterrolle nur eine von vielen im Leben ist. Es scheint dennoch, als hätte Sie ihren Frieden mit den Dingen gemacht und als würde das Verzeihen an erster Stelle stehen. Es hat mir gut gefallen, das jetzt aus Sicht der Mutter besonders jene Menschen gewürdigt werden, die auch zu Zeiten als sie selbst noch in der Familie lebte, ihr zugewandt waren, die manchmal eine Stütze für die Mutter waren und nicht nur jene, denen Sie alles gab, in der Hoffnung das die Kinder etwas daraus machen würden. Menschen, die geben konnten und nicht nur nahmen.
Fazit
Letztlich vergebe ich dennoch nur 4 Lesesterne, denn das Potential dieser Geschichte entfaltet sich viel zu spät. Es ist ein Buch, welches mir in weiten Teilen sehr fremd geblieben ist, der Erzählstil, der oft in der zweiten Person Singular erfolgt, hat mich nachhaltig gestört, das sorgt nur für Distanz, obwohl es doch Nähe vermitteln soll. Die sozialen und persönlichen Hintergründe werden großflächig und allgemein gezeichnet, ein schweres Leben, geprägt von Armut, Krankheit und Lieblosigkeit wird damit abgetan, statt gewürdigt.
Immerhin eine Lektüre, die zum debattieren einlädt, zum Gespräch zwischen den Generationen, zwischen Eltern, Kindern und Enkelkindern. Und ein Buch mit einer wichtigen Botschaft (so etwas mag ich ja immer gern) – damit man nicht weite Teile seiner Verfehlungen bereuen muss, sollte man stets daran denken, dass sich das Universum nicht nur um die eigene Person dreht, sondern hin und wieder auch einen Blick in das Innenleben der anderen riskieren und versuchen dafür ein Verständnis zu entwickeln.