Das dunkle Kapitel der Euthanasie im Dritten Reich ist in literarischer Form bisher selten aufgegriffen worden. Dass zahlreiche Ärzte, Wissenschaftler und ein williges Personal von Krankenhausangestellten dazu bereit waren, Menschen mit unheilbaren und erblich bedingten Krankheiten, behinderte oder seelisch kranke Menschen als „Schädlinge“ des Volkskörpers zu bezeichnen und allgemein als „unwertes Leben“ im wahrsten Sinne „abzustempeln“ und mit dem Tod zu bestrafen, gehört mit zu den grausamen Tatsachen in Deutschland zur Zeit des Dritten Reichs. Barbara Zoeke, von der zuletzt der Roman „Bewegliche Labyrinthe“ (2013) erschien, behandelt das Thema Euthanasie in ihrem in der Anderen Bibliothek erschienenen Roman „Die Stunde der Spezialisten“ auf eine ebenso fundierte wie stilistisch grandiose und ergreifend zu lesende Weise. Dabei richtet sie den Blick sowohl auf Opfer als auch Täter des tödlichen Vernichtungsapparates und macht reale Persönlichkeiten aus jener Zeit zu Protagonisten ihres Romans.
Im ersten Teil lernen wir Max Koenig kennen, einen Altertumsforscher, der wegen einer erblich bedingten Muskelkrankheit, die ihn nach und nach am ganzen Körper lähmt, Krankenhauspatient ist. Während seines Martyriums in wechselnden Berliner und Brandenburger Kliniken, in dessen Verlauf sein körperlicher Zustand sich verschlechtert, bis er nicht mehr sprechen kann, schreibt Koenig Briefe an seine Frau, die im Laufe des Romans zusammen mit der Tochter aus Deutschland nach Italien flieht. Zoeke hält sich an die historischen Fakten, die sie genauestens recherchiert hat (ein ausführliches Glossar und Register im Anhang hilft dabei, die Protagonisten des Romans und ihre Beziehungen zueinander zu überblicken und einzuordnen). Doch es ist vor allem ihrem stilistischen Können zu verdanken, dass uns Koenigs Ausgeliefertsein an das grausame System so beklemmend nahe kommt und wir hautnah miterleben, was es heißt, einem mörderischen Apparat nicht mehr zu entkommen.
Im zweiten Teil steht der junge Arzt Friedel Lerbe im Mittelpunkt, ein typischer Vertreter jener „willigen Helfer“, die ohne Skrupel Menschen in den Tod schicken, die in ihren Augen das Recht auf Leben verwirkt haben. Lerbe trägt unter seinem weißen Kittel immer seine schwarze Uniform der NSDAP. Auch hier vermeidet Zoeke das grobe Besteck und beschreibt Lerbe als durchschnittlichen Angestellten seiner Zunft, als Verlobten und beschränkten Durchschnittsmenschen, der von einer unbeschwerten Zukunft mit einer Schar blonder Enkel träumt und dabei nicht davor zurückscheut, täglich mehrmals den Gashahn in den Kellergeschossen des Krankenhauses aufzudrehen, um die Mördermaschinerie am Laufen zu halten.
Der Roman ist großartig in seiner nüchternen Differenziertheit, die nirgends umschlägt in plakative Entrüstung und moralische Verurteilung. Statt Anklage gegen die Barbarei verblendeter Ärzte zu erheben, vertraut Zoeke darauf, dass das stille, ruhige Erzählen intensiver und nachhaltiger wirkt als der erhobene Zeigefinger. Dabei scheut sie nicht davor zurück die grausamen Vorgänge en détail zu beschreiben und die Akten und Todeslisten aus jener Zeit zu nutzen. Ein Wort wie "Backgeschwister", das im Zusammenhang der systematischen Vernichtung durch Gas und Feuer Verwendung findet, lässt uns aufhorchen und erschreckt uns durch seine zynische Metaphorik. So kommen wir den Mördern ebenso nahe wie den Ausgelieferten und die Lektüre lässt uns trotz ihrer Düsterkeit und inhaltlicher Schwere bis zur letzten Seite nicht los.
Es ist offensichtlich, wie viel Recherchearbeit Barabara Zoeke geleistet hat, um sich diesem schwierige Thema künstlerisch zu nähern, aber vor allem ist es eben schwer auszuhalten, dass vor knapp 80 Jahren in Brandenburg, Berlin und vielen anderen Orten in Deutschland und Europa die kalte Mördermaschinerie funktioniert hat, unterstützt von Rassewahn und Führergläubigkeit. Die klare Struktur und einleuchtende Aufteilung ihres Romans gibt uns bei der Lektüre einen sicheren Halt. Aber wir wissen alle, dass es an vielen Orten der Welt immer noch unvorstellbar grausam zugeht und dass oft nicht viel nötig ist, um aus einem Menschen eine seelenlose Bestie zu machen.
Das Buch ist (im illustrierten Schuber) der Anderen Bibliothek erschienen, ästhetisch ansprechend, mit wertvoller Innenausstattung.