Sund ist speziell. Experimentelles Werk, persönliche Erzählung und ein geschichtlicher Aspekt, der wenig bekannt ist, aber dennoch nie vergessen werden darf.
Deshalb fällt es mir schwer, das Buch zu rezensieren. Mit dem experimentellen Teil haderte ich sehr, zu wenig wurde mir klar, was gemeint ist: wer oder was ist der Balg? Der Elch? Ist die Neue eine Person oder ein Teil der Persönlichkeit der Erzählerin? Wäre der Roman nicht nur 130 Seiten lang, weiß ich nicht, ob ich nicht abgebrochen hätte, einfach weil ich nicht wusste, was ich gerade lese. Das wäre aber sehr schade gewesen, denn der Sund ist sozusagen Rahmenhandlung für Recherchen der Erzählerin über die Rolle des Uropas zur Zeit des Nationalsozialismus. Ein Orthopäde, der an den Euthanasie-Verbrechen beteiligt war, nach Ende des 2. Weltkrieges war er als renommierter Medizinier bekannt, als wäre nichts gewesen. Straßen sind nach ihm benannt und da mir der Name bekannt vorkam, begann ich zu googeln. Tatsächlich, ich hatte Recht. Sogar in meinem Navi zeigt es die Straße noch an. Anfang 2023 war ich in Bad Tölz und Lenggries unterwegs, weil dort Special Olympics Winterspiele sattfanden. Sportwettbewerbe für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Was für ein erschreckender Zufall, dass ich ausgerecht in diesem Zusammenhang die Straße entlangfuhr, die nach einem Medizinier benannt ist, der an Programmen beteiligt war, in denen unter anderem Menschen mit Behinderung ermordet wurden.
Chronologisch wird die Recherche aufarbeitet, Fakten treffen auf offene Fragen, auch deshalb, weil die Biografie des Mediziners „beschönigt“ wurde, weil Dokumente vernichtet wurden, weil man es ignorieren will, weil das dem Morden zugrundeliegende Gedankengut nach wie vor verbreitet.
Was ist die Wahrheit? Wer ist die Erzählerin, wer war der Urgroßvater? Was ist der Sund? Was passiert auf der Insel?
Die offenen Fragen sind für mich das, was die Handlung am Sund und die Recherchen über die NS-Zeit verbinden, auch wenn sie inhaltlich nichts miteinander zu haben. Oder doch? Ich weiß es nicht, denn mir als Leserin blieben viele Fragen unbeantwortet. Vielleicht eignet sich der Roman nicht, alleine gelesen zu werden; vielleicht muss er diskutiert werden.
Letztendlich gibt es 4 Sterne von mir, auch wenn ich mit der Rahmenhandlung echt Schwierigkeiten hatte, aber gleichzeitig habe ich selten so viel noch über die Handlung eines so kurzen Romans nachgedacht.
An dieser Stelle möchte ich unbedingt "Schwarzpulver", den Debütroman von Laura Lichtblau, empfehlen. 2020 schon aktuell, jetzt erschreckenderweise noch aktueller, leider.