Rezension zu "The Ten Percent Thief" von Lavanya Lakshminarayan
In einer nahen Zukunft in Apex City (ehemals Bangalore, Indien) herrscht eine „meritokratische Technarchie“, regiert von der Firma Bell Corp. Alles wird durch die Bell-Kurve (Normalverteilung) bestimmt. Mit den richtigen Werten an Produktivität und Social Media Likes gehören Bürger zu den obersten 20 Prozent, der virtuellen Elite. Sie haben vollen Zugriff auf allen Luxus und alle technologischen Features. Die mittleren 70 Prozent gehören zu den Virtuellen, leben aber in konstanter Angst vor dem sozialen Abstieg. Denn die unteren 10 Prozent, die Analogen, leben räumlich abgegrenzt, haben keinen Zugang zu fließend Wasser, Elektrizität, moderner Technologie oder genießen auch nur die Anerkennung ihrer Menschlichkeit. Der Status auf der Kurve wird permanent neu bestimmt, jeder steht konstant unter Beobachtung und Bewertung und Fehler werden nicht toleriert. Der titelgebende „Zehn-Prozent-Dieb“ stiehlt die Samen eines Jacaranda-Baums aus der Welt der Virtuellen und pflanzt diesen in der pflanzenlosen Welt der Analogen und bringt damit eine Revolution zum Keimen.
Besonders an diesem Roman ist die Erzählstruktur, ein Mosaik aus miteinander verwobenen Kurzgeschichten, die Apex City vielperspektivisch zum Leben erwecken. Mal in der 1. Person, mal in der 3. Person erzählt, folgen wir Charakteren aus allen Abschnitten der Bell-Kurve. Einzelne Figuren tauchen in späteren Geschichten wieder auf, aber es gibt keinen zentralen Charakter, dem die Erzählung folgt und mit dem man sympathisieren kann. Dennoch ist die nahe Zukunft so vorstellbar und bisweilen erschreckend plausibel und die Sorgen und Konflikte der Figuren so authentisch geschildert, dass Identifikation erzeugt wird. Und auch wenn die einzelnen Geschichten nur sehr lose um einen linearen Handlungsstrang arrangiert sind, schafft es die Autorin irgendwie Spannung aufzubauen. Die Ideen für Zukunftstechnologien selbst sind nicht unbedingt neu, vieles kennt man aus dem Cyberpunk oder aus anderen Dystopien. Entscheidend ist hier die Kreativität, mit der bestehende Technik und aktuelle Entwicklungen in die Zukunft fortgesponnen werden. Das Worldbuilding ist wirklich bestechend und macht die Stärke des Romans aus. Als teilweise satirischer Kommentar zu Themen wie Digitalisierung und Social Media oder Technologie-Abhängigkeit, stimmt das Buch sehr nachdenklich.
Insgesamt ein ungewöhnlicher, ein fesselnder Science-Fiction Roman (nebenbei bemerkt mit einem großartigen Cover). Eine klare Empfehlung, wenn man bereit ist, sich auf die ideengetriebene, nicht Plot-getriebene Erzählstruktur ohne Hauptcharaktere einzulassen.