Rezension zu "Anatomie der Wolken" von Lea Singer
Goethe hätte ihn nicht so gefeiert wie wir heute. Den großen deutschen Romantiker. Goethe lehnte alles Romantische ab. Es sei „kein Natürliches, Ursprüngliches, sondern ein Gemachtes, ein Gesuchtes, Gesteigertes, Übertriebenes, Bizarres“. Mit Sicherheit hatte er noch mehr solche Gemeinheiten parat. Aber die Wolken haben ihn schon fasziniert. Er hat den Maler sogar in Dresden aufgesucht.
Allein diese Episode in Lea Singers Roman „Anatomie der Wolken“ ist die Lektüre wert. Ein Kabinettstück der Erzählkunst! Der Hungerleider Friedrich empfängt Goethe mitsamt seinem Anhang im kargen Atelier, ist ganz nervös wegen des hohen Besuchs, hat Käse und Bier auf Pump gekauft, um außer Schlehensaft etwas anbieten zu können. Die feinen Herrschaften bevorzugen aber Tee, sehen Wolken, Himmel, Ruinen. Er kann ihnen wenig Auskunft über seine Kunst geben, denn er sei „kein sprechender Maler“. Er kommt sich auf einmal so klein vor. Erfrischend zu lesen, wie die Herrschaften sich vor der Kunst lächerlich machen.
Lea Singer kann wunderbar erzählen und die Gegensätze zwischen den beiden Protagonisten herausholen. Auf der einen Seite der bodenständige Friedrich, der von der Hand in den Mund lebt, seine Reden gern mit Kraftausdrücken würzt, wandert, malt und in Anbetung der Natur, seiner Religion, aufgeht. Auf der anderen Seite der arrivierte Dichter und Staatsmann, der von allseitiger Bewunderung lebt, aber Neues nicht anerkennen mag.
Große Leseempfehlung! Am besten verbunden mit einem Besuch in einer der großen Caspar David Friedrich-Ausstellungen.
Im neuen Nachwort der Autorin zur Neuausgabe 2024 rückt Singer auch ein paar Aussagen Illies‘ zurecht.