Cover des Buches Anatomie der Wolken (ISBN: 9783455405194)
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Rezension zu Anatomie der Wolken von Lea Singer

Goethe, zwischen Genie und Größenwahn

von sursulapitschi vor 9 Jahren

Rezension

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sursulapitschivor 9 Jahren
Was für ein Mensch war Goethe?
Befragen kann man ihn nicht mehr, Fotos gibt es auch nicht, aber er hat zum Glück einen Berg schriftlicher Zeugnisse zu allen Themen dieser Erde hinterlassen, die man interpretieren kann. Zwischen den Zeilen steckt der Mensch, Goethe, den uns Lea Singer hier vorstellt, einen Mann in den 60ern, dessen große Tage vorbei sind und der sich nicht aufs Altenteil setzen will, der von vergangenem Ruhm zehrt, ihn übertrumpfen will und sich dabei an Strohhalme klammert. Ein eitler, egozentrischer alter Mann zwischen Genie und Größenwahn.

„Aufbruch! Nur der Aufbruch konnte ihn retten. Raus aus dem Goethemuseum, hinein in die Welt der Wissenschaft, der Jungen, der anderen Ideen. Wolken! Es gab kein besseres Terrain für seine Neugier.“

Nachdem er Newtons Erkenntnisse über die Optik als Humbug entlarvt hat, fühlt er sich dazu berufen, die Wissenschaft durch Wolkenforschung zu bereichern.

„Das Atmosphärische, sagte Goethe, entspreche der Stufe, auf der er nun stehe. Oberhalb der Zoologie, Mineralogie, Geologie, konkreten Anatomie. Oberhalb des Irdischen… Auf dem Weg in höhere Sphären.“

Ein Dorn in Goethes Auge ist (Caspar David) Friedrich, ein begnadeter Wolkenmaler, der nicht reich, nicht berühmt und nicht gebildet, doch nicht übersehen werden kann. Immer wieder kreuzen sich ihre Wege. Friedrich steht für alles, was Goethe zuwider ist: Emotionen statt Struktur, Liebe zur Natur statt zu Idealen, Romantik und Mystik sind plötzlich modern. Damit kann Goethe nichts anfangen und unterdrückt es, wo er kann, diskreditiert junge Künstler, sabotiert, intrigiert, immerhin ist er bekannt und hat Einfluss.

Diese beiden berühmten Männer führt uns dieses Buch sehr lebendig vor Augen, schonungslos, mit viel Humor und in ausgesucht schöner Sprache. Man meint, man blickt in ihre Seele, hört Goethe lamentieren, Friedrich zweifeln und ist gleichzeitig mittendrin in der Künstlerszene des beginnenden 19. Jahrhunderts. Kleist, Schiller, Humboldt und viele andere große Namen tauchen hier auf und sind plötzlich Menschen. Und dann ist da noch die Malerin Louise Seidler, die Goethe und Friedrich bewundert, zu vermitteln versucht, dabei aber an ihre Grenzen stößt. Sie ist nur eine Frau und Frauen wird zu dieser Zeit sowohl der Verstand als auch jedes Talent aberkannt. Auch das wird hier sehr plastisch dargestellt.

Nach dem Lesen dieses Buches habe das Gefühl, ich kenne jetzt zwei berühmte Menschen, die vorher nur Namen waren, mit all ihren Stärken und Schwächen. Ich habe in eine spannende Zeit des Umbruchs geblickt und mich dabei köstlich amüsiert.
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