Rezension zu "Das verborgene Leben der Pflanzen" von Lee Sung-U
Ki-Hyeons Familie befindet sich in einer katastrophalen Situation: Vater und Mutter reden nicht miteinander, der ältere Bruder verlor im Korea-Krieg beide Beine, seine "Anfälle" quälen nicht nur ihn, sondern auch die Mutter, die ihn aufopferungsvoll pflegt. Ki-Hyeon wurde von seinen Eltern kaum beachtet, zu seinem stets bevorzugten Bruder bestand geradezu eine Feindschaft, dennoch kehrt er ins Elternhaus zurück, um seine Mutter in dieser schwierigen Lage zu unterstützen.
Ki-Hyeon hat gerade ein Büro als Privatdetektiv eröffnet, als er einen merkwürdigen Auftrag erhält: ein Unbekannter bietet ihm eine hohe Summe dafür an, um eine Frau zu beschatten - die sich nach kurzer Zeit als Ki-Hyeons Mutter entpuppt. Nach und nach deckt Ki-Hyeon die Geheimnisse auf, die seine Mutter, aber auch sein Vater und sein schwerbehinderter Bruder mit sich herumschleppen. Er muss ein Gewirr aus Eifersucht, Angst und Stolz entwirren, und sich auch seinen eigenen Gefühlen stellen - um sich und seinen Bruder aus dem Zwang der Wiederholung zu befreien...
In diesem kunstvoll angelegten Roman geht es um eine tragische Familiengeschichte, vermischt mit poetischen und mystischen Elementen. Hier fließt, ohne dass man sich beim Lesen belehrt fühlt, einiges an Fachwissen ein, denn der Autor hatte ursprünglich Theologie studiert. Heute lehrt Sung U-Lee Koreanische Literatur in Chosun (Südkorea). Seine Romane wurden weltweit übersetzt und gewannen einige Preise.
Mich hat dieser Roman von einem Gefühl ins andere gestürzt - zunächst war ich schockiert über die auswegslos erscheinende Situation der Familie, die Kälte und Depression, die sie ausstrahlt. Doch aus Rückblenden erfahren wir, dass jede Person einmal ein glücklicher, liebender Mensch gewesen ist, der durch Schicksalsschläge in eine Sackgasse geraten ist. Ihre Gefühle verstecken sie hinter ihrer Fassade, aber die inneren Verbindungen sind unzerstörbar. Immer wieder werden Parallelen zum "verborgenen Leben" der Bäume gezeichnet, die sich äußerlich kaum bewegen, die ihre wahre Kraft aber unterirdisch entfalten, und die durch ihre Wurzeln weite Strecken überwinden können. Viele Stellen haben mich sehr berührt, besonders wenn die Kriegserlebnisse oder altmodische Moralvorstellungen die Gefühle der Menschen auf harte Proben stellen. Ki-Hyeong deckt das geheime Beziehungsgeflecht seiner Familienangehörigen auf, die sich dadurch wieder näher kommen.
Am Ende hatte ich den Eindruck, dass sogar der "entwurzelt" erscheinende Ki-Hyeong seinen Platz gefunden hat - ob er es schafft, tiefe Wurzeln zu schlagen, bleibt offen.
Fazit: ein vielschichtiger Roman über Stagnation und Entwicklung, Rationalität und Mystik, und nicht zuletzt: über die Liebe.