Einfühlsam berichtet Lena Gorelik davon, wie sie als Mädchen mit ihrer Familie ihre Heimatstadt Sankt Petersburg 1992, kurz nach dem Ende der Sowjetunion, verlässt.
Sie erzählt, wie es dazukam:
Vom Vater, der in der Bahn aufgrund seiner jüdischen Religion herabgewürdigt wird, von der Angst vor Verfolgung, von ihrer Mutter, die als junge Frau keine Sprachen studieren durfte, weil sie jüdisch war.
Vom geliebten Onkel, der ihr zur Geburt Glückwünsche schrieb und ihr prophezeite, eine Dichterin zu werden. Dem sie so ähnlich schien und der sich, weil er nicht ins System passte, umbrachte, als sie 9 Jahre alt war.
Und vom Opa, bei dem sie sich das Schreiben "abschaute" und der sie das Märchentelefon anrufen ließ.
Gorelik erzählt vom Entschluß der Familie zu emigrieren, als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland aufzubrechen. Vom Mut, den es braucht und vom Schmerz, den es verursacht.
In einer einfühlsamen, fast möchte ich sagen, zärtlichen Sprache beschreibt sie die Wunden, die das Verlassen der Heimat verursacht hat. Die Tiefe der Wunden gilt es ein Leben lang auszuloten.
Goreliks Sprache trifft dabei ins Herz, ganz nah läßt die Autorin uns an ihre Figuren/ihre Familie heran und behandelt sie trotz Differenzen und gelegentlichem Streit mit Respekt und Liebe.
Die Klugheit in ihren Zeilen lässt mich staunen. Goreliks Roman von "Null bis unendlich" hatte mich vor einigen Jahren schon vollends überzeugt, aber dieses Buch ist für mich ein Highlight!
Leseempfehlung:
Diesen Text sollten alle Menschen lesen, die nie ihr Heimatland verlassen und nicht aus politischen und/oder wirtschaftlichen Gründen flüchten mussten, denn er gibt einen tiefen Einblick in die Situation und weckt Mitgefühl und Verständnis.
Man bekommt eine Ahnung davon, was es bedeutet, an zwei Orten zuhause zu sein oder an keinem richtig.