Cover des Buches Das Havanna-Quartett (ISBN: 9783293260078)
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Rezension zu Das Havanna-Quartett von Leonardo Padura

Zwischen Krimi und Weltliteratur

von Joachim_Tiele vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Endlich eine Neuerscheinung!

Rezension

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Joachim_Tielevor 8 Jahren
Zwischen Krimi und Weltliteratur - der kubanische Existenzialist und Humanist Leonardo Padura, dessen Romanzyklus Havanna-Quartett jetzt vollständig auf Deutsch erschienen ist ( 1 ), verbindet die Suche nach Mördern mit der Suche der Generation der mittleren Siebziger des vorigen Jahrhunderts nach individuellen und gleichzeitig gesellschaftlich wegweisenden Lebensentwürfen und beschreibt die Trauer über ihr Scheitern.

Den Zugang zum Werk des kubanischen Journalisten und Schriftstellers Leonardo Padura, Jahrgang 1955, kann man auf unterschiedlichen Wegen finden. Ist man von Haus aus Krimifreund, stößt man auf eine - auf den ersten Blick - exotische Variante des literarischen Kriminalromans etwa in der Tradition Dashiell Hammets. Für Literaturkenner ist es die gekonnte Weiterführung der großen Topoi der europäischen Aufklärung: Die femme fatale trifft auf lateinamerikanischen Machismo, der Homosexuelle in der Tradition Genets auf die adretten Uniformhemden und virilen Bärte der kubanischen Revolutionshelden. In dieser Perspektive geht es um Außenseiter, wie sie etwa Hans Mayer in seinem gleichnamigen literaturhistorischen Großessay analysiert hat, und ihre individuellen Daseinsrechte und -bedingungen. Der Kriminalroman wird dann zur Metapher, das who dunnit zur Marginalie.

Und es gibt einen weiteren verblüffenden Zugang. Padura, ebenso wie seine Hauptfigur Mario Conde, der gleichzeitig von Selbstzweifeln zerfressene und höchst effiziente Ermittler in Havannas Morddezernat, sind Abiturjahrgang 1975 und damit Protagonisten jener Generation, die als erste den Versuch machte, die intellektuellen Entwürfe der Sechziger in reale Lebensentwürfe zu gießen, Studium, Beruf und Partnerschaften in Richtung einer Verbesserung der Welt auszurichten. Viele von Ihnen traten den vielzitierten Marsch durch die Institutionen an, manche blieben moralisch integer und scheiterten, andere spielten das Spiel der kontrollierten Anpassung, bis sich der Kontakt mit den Herrschenden zunächst zum Infekt und später zum Krankheitsbild der Korrumpiertheit entwickelte. Denn nach wie vor gibt es kein richtiges Leben im falschen, um Theodor W. Adorno zu zitieren, den hassgeliebten Hausphilosophen der Achtundsechziger und vieler ihrer Nachfolger.

Was Padura en passant leistet, ist eine soziologisch präzise Innenansicht dieser Generation, die von manchen als die verlorene, von anderen als die verdorbene bezeichnet wurde. Diesen über Kontinente und ideologische Machtblöcke hinweg gleichzeitigen Aufbruch in eine vermeintlich lichtere Zukunft und sein Scheitern in der Perspektive des von vielen aus dieser Generation nach wie vor hochgeschätzten kubanischen Gesellschaftsexperiments zu zeigen, dabei durch das karibische Lokalkolorit seine Universalität noch unterstreichend, ist Paduras größter literarischer Verdienst. Obwohl zwischen 1990 und 1998 verfasst, zeigen die vier Romane des Havanna-Quartetts - Ein perfektes Leben, Handel der Gefühle, Labyrinth der Masken und Das Meer der Illusionen - die Jahreszeiten eines einzigen Jahres, 1989, das Jahr der faktischen Auflösung der Sowjetunion alter Prägung, in Kubas Hauptstadt. Verbunden sind die einzelnen Kriminalfälle, das Verschwinden eines hohen Tieres aus dem Wirtschaftsministerium, die Ermordung einer jungen Chemielehrerin mit blütenweißer Parteibiografie, das Auffinden einer männlichen Leiche in Frauenkleidern, durch die Person des Teniente Mario Conde, ein als Jugendlicher desillusionierter angehender Literat, der völlig unpolizeilich denkt und tickt, und Täter und Opfer häufig im Milieu seiner früheren Schulkameraden entdeckt.

Hintergründe der Kriminalfälle sind die Alltagskorruption in Staatshandelsländern, die Gier nach Besitz und sozialem Aufstieg und das Vertuschen von Skandalen. Die Geschichten spielen im Bereich der Tadellosen und Perfekten, wie Padura es einmal ausgedrückt hat, und es sind Lügengeschichten im Interesse einer höheren Wahrheit. Conde ist weniger Polizist als Zeitzeuge, zügellos in seiner persönlichen Lebensführung, aber durch und durch unbestechlich. Sein auch beim schlimmsten Kater unvernebelter Blick verbindet Politik, Freundschaft, Sexualität und Alltagsbewältigung. Der Fall, das Verbrechen, ist eher lästig, kündigt sich durch einen Telefonanruf im Morgengrauen an, und wird ihm, dem Undisziplinierten, zugeteilt, weil die Verbindungen nach ganz oben gehen. Die Aufklärung des Verbrechens wird damit zur gesellschaftlichen Aufklärung und ihre Darstellung zu Literatur, zu einer Literatur, die der Gleichheit verpflichtet ist, das aufspürt, was einige gleicher als die anderen sein lässt, und Gleichmacherei ablehnt, weil es die Individualität der Abweichung von der Norm ist, die den Menschen zum Menschen macht. Es ist die Literatur einer tiefverwurzelten Humanität.

06.08.2016 - Joachim Tiele

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( 1 ) Diese Rezension erschien ursprünglich im Jahr 2005, dem Jahr der vollständigen Übersetzung des Havanna-Quartetts auf Deutsch, unter meinem richtigen Namen (Joachim Tiele ist ein Pseudonym) in einer Zeitschrift, die seinerzeit bundesweit im Kioskhandel erhältlich war. Jetzt ist die Sammlung neu erschienen, aber hier bei LovelyBooks geht das etwas durcheinander, denn die Neuerscheinung vom Juli 2016 hat eine eigene LB-Page und die alte mit den Rezensionen dort (auch dieser, meiner, die ich dort im Frühjahr bis auf die Überschrift identisch gepostet hatte) ist nicht mehr erreichbar, wenn man im LB-Suchfenster nach ihr sucht, kann also auch an die ursprüngliche Rezension nicht angehängt werden, was sie auch hier bei der Neuasgabe anzeigen würde. Daher nochmals hier meine ursprüngliche Rezension, jetzt als Willkommen für die Neuausgabe!
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