Was ist „Das Gegenteil eines Menschen“? Um diese Frage zu beantworten, müsste man zunächst definieren, was einen Menschen ausmacht. Diesem Thema widmet sich auf einer sehr persönlichen Ebene die Erzählerin Ida aus Lieke Marsmans außergewöhnlichem, experimentellem und sehr besonderem Roman. Mit gängigen Kategorien lässt sich der Text kaum beschreiben, seiner Mischung aus Erzählen, Lyrik und Mikroessays, kombiniert mit Kapiteln, deren Passagen jeweils nur aus ein bis drei Sätzen bestehen, die aber einen ganzen Gedankensturm beim Leser entfachen können, kann man mit den gewöhnlichen Eckpunkten einer Rezension nur schwerlich gerecht werden.
Ich versuche dennoch, meinen Leseeindruck in, im Angesicht der Präzision und Wortgewalt von Lieke Marsmans Werk, sich eher bescheiden ausnehmende Sprache zu kleiden. Der Text hat mich überrascht, umgehauen, mitgenommen. Ich bin zutiefst begeistert angesichts der Reflexionsfreude der Erzählinstanz, der es gelingt, vom Persönlichen immer wieder aufs große Ganzen zu kommen; die allgemein Gültiges zu beobachten versteht und dieses mit Klarheit und mitunter auch viel Humor in verständliche Sätze zu bannen.
Der Abwechslungsreichtum dieses Romans ist ebenso fabelhaft, wie der Raum, den er dem Leser zum Mit- und Nachdenken gibt, nicht zuletzt auch auf dem Papier erlebbar gemacht durch unausgefüllte Seiten. Besonders die essayistischen Ausführungen zur Sexualität und zur Lücke in Sprache und Liebe haben mich völlig überzeugen können, aber auch die Romanhandlung im eigentlichen Sinne, die im Zeichen des Klimawandels steht, hat mich beschäftigt. Für mich ist der Text kunstvoll, kühn, progressiv und absolut lesenswert.
Ein Leseabenteuer für mutigere Leser, die sich fordern wollen, Freude an Sprache und Weisheit haben, unerschrocken auf Neues zu gehen mögen und sich auch vor einer gewagteren Form von Literatur nicht scheuen. Ich habe jede Seite genossen und fange direkt nochmal von vorne an mit der Lektüre, denn wer könnte Sätzen wie „altern ist wie einem gefrierfach beim auftauen zusehen: man weiß, worauf man wartet, aber es zieht sich“ (S. 83) schon widerstehen? Tolle Lektüre!