Rezension zu "Exit this City" von Lisa-Marie Reuter
Wo fange ich an? Bei den dummen Menschen, die sich mal wieder selbst im Weg stehen oder bei der Natur, die dem Leben einfach freie Bahn lässt? Wir schreiben das Jahr 2158. Die Welt hat sich grundlegend geändert. Europa ist zusammengebrochen und dient den anderen Ländern als „Agrarfläche“. Viele andere Länder ergeht es ähnlich. Es bilden sich Superstädte, in denen das Leben noch möglich ist. Sandstürme und Überflutungen sind an der Tagesordnung und nur durch die Kontrolle der FinalFood Inc. ist Nahrung für die Bevölkerung gesichert. Damit die Pflanzen auch genug bestäubt werden, haben Wissenschaftler an Bienen herumexperimentiert, das Ergebnis - die Z.O.M.Bees.
Schneller, widerstandsfähiger und leicht zu züchten, jedoch mit dem Nachteil, dass ihr Stich für den Menschen tödlich ist. Unaufhaltsam breiten sie sich langsam aus und es scheint, dass nichts sie aufhalten kann. Dass besonders die Feldarbeiter betroffen sind, klingt mehr als logisch und dass sie irgendwann keine Lust mehr haben, bei ihrem Job zu sterben, klingt auch nachvollziehbar. Was ihnen bisher gefehlt hat, war eine Stimme, ein Anführer, der sich gegen das System erhebt. Veeru, Tochter eines Plantagenbesitzers, hat einen Plan - der Untergang von FinalFood. Sie weiß sehr gut, wie es ist, wenn man von einer dieser Bienen gestochen wird.
Als erster Mensch überhaupt hat sie das Unmögliche geschafft und überlebt. Jetzt ruft sie zur Revolution. Die Menschen sind mittlerweile miteinander durch ein Implantat verlinkt. Es gibt private Netze und das Öffentliche, in das man sich einwählen kann. Wie auch jetzt, sind Follower wichtig und so breitet sich der Gedanke der Revolution, dank der Pressearbeit, immer weiter aus. Auf der anderen Seite der Welt, in Indien, erleben wir einen jungen Mann, welcher mit einem Hund spricht. Ja, richtig gelesen, warum sollte nicht irgendwann ein Implantat möglich sein, dass man mit seinem Haustier reden kann?
Die Autorin bringt den Leser erst einmal auf eine falsche Spur, dreht aber alles recht gut in die richtige Richtung. Ihre Liebe zu Indien merkt man dabei sofort. Kleine Details über das Fahren in Rikschas, das Essen und die Kultur werden fein integriert, dass man sogar ein wenig den Duft von Curry und Weihrauch spürt. Leider erzählt sich der Rest der Geschichte nicht ganz so rund. Lange Umwege werden genommen, um auf den eigentlichen Punkt zu kommen. Viele Gespräche und Erlebnisse bleiben daher eher bedeutungslos, dienen zwar dem satt gestalteten Rahmen, dennoch fehlt die Schärfe der Handlung, welche sonst dem indischen Essen beiwohnt.
Fazit:
Ohne Nahrung, keine Leben und keine Nahrung ohne Bienen! Dass wir bereits heute ein intensives Insekten-Massensterben haben, ist schon lange bekannt. Dass bereits an Bienen experimentiert wird, ist auch nicht neu. Was aber, wenn sie wirklich einmal so fehlgeleitet gezüchtet werden? Ein interessanter Ansatz, den Lisa-Marie Reuter hier ins Gespräch bringt. Die aufgeteilte Erzählweise ergibt im Verlauf der Story immer mehr Sinn. Langsam bekommen die Figuren Farbe, auch wenn nicht alle sympathisch sind. Der Sprung von Indien nach Deutschland funktioniert gut. Anschaulich beschreibt die Autorin eine zerrissene Zukunft, aus innovativer Technik und einer Welt voller Hunger, Wüsten und Überschwemmungen. In der Geschichte selbst klaffen allerdings an einigen Ecken Lücken. Der Einstieg ist unbestimmt gehalten und einige inhaltliche Spannungsbögen verlieren später ihren Halt. Dennoch, als Denkanstoß, über das, was kommen könnte und die Chance, es besser zu machen, hebt diesen Roman zu einem mahnenden Protokoll empor. Kurz gesagt, die kleine Fridays-For-Future-Bible.
Matthias Göbel
Autorin: Lisa-Marie Reuter
Paperback: 432 Seiten
Verlag: Fischer TOR Verlag
Veröffentlichung: 24.02.2021
ISBN: 9783596704828