Inhalt
Das letzte, woran sich Angie erinnern kann, ist, dass sie mit ihrer Pfadfindergruppe zum Zelten gefahren ist. Und das sie Himbeeren im Morgengrauen pflückte. Danach herrscht tiefe Dunkelheit. Doch nun steht sie in ihrer Straße, einen Beutel mit ihr unbekannten Sachen in der Hand. Und ihre Eltern behaupten, dass sie drei Jahre lang weg war. Aber was ist mit ihr passiert?
Vom Abspalten der eigenen Persönlichkeit
Zu Beginn noch einmal eine ausdrückliche Triggerwarnung. Dieses Buch befasst sich mit dem jahrelangen Missbrauch eines jungen Mädchens, in dessen Folge sich Persönlichkeitsanteile gebildet haben, die die Last der Erinnerungen auf sich genommen haben.
Scherbenmädchen ist nicht mein erstes Buch über die dissoziative Identitätsstörung, jedoch mein erster fiktiver Roman darüber. Dank Vater Unser in der Hölle von Ulla Fröhlich und dem noch immer in meinem Kopf sehr präsenten Aufschrei von Truddi Chase, habe ich bereits einige Einblicke in diese durch schwerste Traumata hervorgerufene Abspaltung des eigenen Geistes erfahren. Das Schicksal von Angela Grace Chapman ist erfunden, das von vielen anderen Kindern jedoch nicht.
Bei einem Ausflug mit ihrer Pfadfindergruppe in den Wald kehrt Angie drei Jahre lang nicht nach Hause zurück. Als sie es tut, weiß sie nicht, dass bereits so viel Zeit vergangen ist. Für sie ist es erst der nächste Tag, auch wenn ihr Körper eine andere Sprache spricht. Langsam kehren ihre Erinnerungen zurück, größtenteils mit Hilfe von Dr. Grant, der schnell hinzugezogenen Psychotherapeutin. Drei Jahre lang wurde sie von einem Mann in einer Hütte im Wald festgehalten, erniedrigt, gefesselt, missbraucht. Dank meiner vorangegangenen Lektüren wurde ich zunächst stutzig, DIS entwickelt sich in der Regel nicht mehr im Teenageralter, außerdem schien die Stimme, die Angie im Wald zum Verstecken aufforderte, bereits längst vorhanden zu sein. Noch mehr Erinnerungen, die es langsam aufzudecken gilt.
Besonders interessant fand ich den Aspekt des Buches, dass Angie erst sechzehn Jahre alt ist, als sie entdeckt, dass sie nicht allein ihren Körper bewohnt. Das Teenageralter bringt eine Reihe weiterer Probleme mit sich, Schulalltag inklusive, dem es sich nach so einer Tortur zu stellen gilt. Was erzählt man den Mitschülern, kann man ehemaligen Freunden noch vertrauen? Liz Coley, die zu Recherchezwecken ein ausführliches Interview mit einer Überlebenden führte, beschreibt hier auf sehr eindringliche Art und Weise, wie es Angie ergangen sein muss, sich plötzlich mit all diesen erschreckenden Einzeheiten zurecht zu finden, in einer Welt, die nicht mehr die ihre zu sein scheint. Dabei erhält man Einblicke in die Geschehnisse der verlorenen drei Jahre, aber niemals zu detailliert. Angie und ihre Persönlichkeitsanteile wuchsen mir enorm ans Herz, jede für sich, und mehr als einmal verschwamm die Sicht auf die Seiten.
Fazit
Ein etwas sanfterer Einstieg in das Thema der dissoziativen Identitätsstörung dank fehlender Detailgenauigkeit in Bezug auf die erlebten Verbrechen. Außerdem schneidet die Autorin bei der Therapie eine interessante Verfahrenstechnik an, die es so zwar noch nicht gibt, aber vielleicht in naher Zukunft eine weitere Lösung für Überlebende bieten könnte.