Cover des Buches Das Schweigen meiner Mutter (ISBN: 9783423248952)
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Rezension zu Das Schweigen meiner Mutter von Lizzie Doron

Rezension zu "Das Schweigen meiner Mutter" von Lizzie Doron

von WinfriedStanzick vor 12 Jahren

Rezension

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WinfriedStanzickvor 12 Jahren
Der neue Roman von Lizzie Doron, erstmals bei DTV in der Reihe premium veröffentlicht, schließt sich für mich direkt an das in Israel schon 2002 erschienene, in Deutschland erst 2009 veröffentlichte Buch „Es war einmal eine Familie“ an. Dort hatte sie, wie in anderen Büchern auch schon, verfremdet erzählt von ihrer Kindheit im Tel Aviver Viertel Yad Elijahu, einem kleinen, aber geschlossen wirkenden Viertel, in das damals fast nur Überlebende der Konzentrationslager zogen. Schon in ihrer autobiographischen Novelle "Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?" hat die 1953 geborene Lizzie Doron von Yad Elijahu erzählt, von ihrer prinzipienfesten Mutter, die über ihre Vergangenheit in den Lagern der Nazis wie so viele andere beharrlich schwieg. Doron hat erzählt von den Aufträgen und Botschaften der Mutter, die wollte, dass die Tochter ihr Leben ganz auf die Zukunft ausrichtet. Dass ihre Tochter sich womöglich für ein Leben im Kibbuz entscheiden könnte, war ihr ein schrecklicher Gedanke. Und doch kam es genauso. Dorons Figuren sitzen in ihren Büchern allesamt wie in einer Falle. So wie sie sie schildert, versucht sie nachzuweisen, dass es keinen "richtigen" Umgang mit dem Gedenken an die Shoa und ihre Opfer geben kann. Die zweite Generation, aufgewachsen im auch aggressiv vorgetragenen Schweigen ihrer Eltern, hat für ihr ganzes Leben wirksame Beschädigungen erlitten, weil sie ihr Leben nur verstehen können als Trost für die Eltern. Lizzie Doron versucht mit ihren Büchern das Schweigen zu brechen. Es gibt niemand sonst, der in der Lage ist, die widerstrebenden Gefühle der Nachkommen der Überlebenden tiefer und schmerzhafter auszuloten. Man spürt den jewiels sehr sensiblen und gelungenen Übersetzungen Mirjam Presslers ab, welche unsagbare Anstrengung das Schreiben dieser Bücher für Lizzie Doron bedeutet. In „Es war einmal eine Familie“ nimmt sie Abschied von ihrer Mutter Helena. Das ganze Buch ist ein mit vielen Erinnerungen durchtränkter Bericht einer Schiwa, der einwöchigen Trauerzeit der Juden. Elisabeth, das Alter Ego von Lizzie Doron kommt Anfang der neunziger Jahre nach Yad Elijahu zurück. Helena, ihre Mutter, die wir aus den bisher veröffentlichten Bücher im Jüdischen Verlag gut kennen, ist gestorben. Sie hat mit vielen alten Überlebenden der Shoah bis zu ihrem Tod in diesem Viertel gelebt, aus dem die Jungen früher oder später alle weggezogen sind, weil sie die Alpträume ihrer Eltern hinter sich lassen, endlich ein normales Leben führen wollten. Doch viele dieser Kinder, mit denen Elisabeth damals aufgewachsen ist, haben im Jom-Kippur-Krieg ihr Leben verloren. Elisabeth will ihrer Mutter die letzte Ehre erweisen, und bleibt sieben Tage in ihrem Elternhaus. Die beiden uns ebenfalls schon aus den anderen Büchern bekannten Schiwa-Expertinnen Sonia und Genia unterstützen sie dabei. Viele Nachbarn und Bekannte kommen ins Haus und bringen nicht nur Trost mit für Elisabeth, sondern auch ihre Geschichten und Erinnerungen. Indem sie, zunächst etwas widerwillig, dann aber mehr und mehr sich fallen lassend in die tröstende Hülle einer Schiwa, all diesen Menschen zuhört und ihren bewegenden Geschichten lauscht, kehrt die lange für Elisabeth versunkene und verdrängte Welt ihrer Kindheit wieder zurück. Nach dem Ende der einwöchigen Trauerzeit hat Elisabeth eine für ihr weiteres Leben sehr wichtige Erkenntnis: sie, die nie eine andere Verwandte hatte als ihre Mutter, ist doch nicht ohne eine Familie aufgewachsen. Dieses Viertel, das in den fünfziger und sechziger Jahren für unzählige Überlebende eine neue Wohnstatt wurde, in dem sie mehr oder weniger erfolgreich versuchten, sich ein neues Leben aufzubauen, dieses Viertel war einmal ihre Familie. Das wird ihr Kraft geben für ihr weiteres Leben: "Und dieses Land, das mit seinen Toten schon seit vielen Jahren dahinstirbt, ist noch einmal auferstanden. Nur sieben Tagen war es noch einmal da, das unbekannte Land. Das Land, das mir Heimat und Familie war. Und das ist seine Geschichte." Doch die Geschichte war noch lange nicht zu Ende. Denn Lizzie Doron weiß immer noch nicht, wer ihr Vater war. Immer wieder hat die kleine Lizzie nicht nur ihre schweigende Mutter, sondern auch ihre Freundin Dorit gefragt nach ihrem Vater und immer wieder darüber nachgedacht, ob der Mann , der sich auf einem alten Foto hinter einem Busch versteckt, wohl ihr Vater war. Als Alisa (Lizzie Doron) lange Jahre nach dem Tod ihrer Mutter zu der Beerdigung der alten Fejge in ihr ehemaliges Viertel zurückkehrt, kehren auch lange vergessene Erinnerungen zurück an ihre vergebliche Suche nach ihrem Vater. Weil nicht nur ihre Mutter, sondern auch die nun verstorbene Fejge, und wie sich langsam herausstellt, auch ihre Freundin Dorit viel mehr wussten, aber ihr nicht sagen durften. Und so war Alisa in ihrer ganzen Kindheit nicht nur mit dem „Schweigen meiner Mutter“ konfrontiert über all das, was sie „dort“ (in Theresienstadt) erlebt hatte, sondern auch über ihren Vater. War er ein Kapo oder ein Partisan gewesen, ein Verräter oder ein Held? Alisa beginnt nachzuforschen, indem sie sich erinnert. Bracha, eine Frau aus dem Viertel, die mit der Vergangenheit nicht schweigend oder verdrängend umgeht, sondern die fast manisch in den nun zugänglichen Akten von damals forscht, bekommt scheibchenweise immer mehr heraus. Auch Alisa ist nicht untätig und befragt nicht nur ihre Erinnerungen und die wenigen Fragmente, die ihre Mutter erzählt hat vom Vater, sondern löchert auch Dorit, die damals schon mehr wusste, als sie zugab. Schritt für Schritt geht Alisa nicht nur noch einmal durch eine verlorene Kindheit, sondern nähert sich auch dem Sinn und der Begründung eines irrwitzigen Geheimnisses. Auf eine bewegende Weise wird der Vater zu einem konkreten Menschen mit einer Geschichte. Auch die bislang für Alisa unbekannte Geschichte der Mutter vor dem Lager wird klarer, und am Ende des Buches, als sie nach den Beerdigungsfeierlichkeiten für die alte Fejge wieder nach Hause fährt, wird so etwas wie Erlösung und Befreiung spürbar: „Ich hielt am Straßenrand. Ich atmete tief die klare Luft ein, der Wind streichelte mein Gesicht und da war der Widerhall der Stimme meiner Mutter, klar und deutlich wie nie zuvor: Spring. Lauf. Sing.“
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