Rezension zu "We Are Not Numbers" von Malak Mattar
Eingerahmt werden diese Texte, die keine literarischen Texte im klassischen Sinne sind, sondern Zustands-Skizzen der jungen Verfasser aus Gaza, von dem Prolog und dem Epi-log der Ideengeberinnen des Projektes: Pam Bailey und Alice Rothschild. Und umrahmt von den wunderbaren, expressiven Bildern der Künstlerin Malak Mattar.
Bewegende Texte, die bedrücken, beschämen und zutiefst berühren. Wir nehmen die Träume, Hoffnungen und die Wünsche der jungen Menschen in uns auf, es lesen sich Hoffnungslosigkeit und zugleich Hoffnung in den Zeilen, tröstlich und tröstend trotz aller machtvollen Willkür durch die Israelis, trotz aller Ausweglosigkeit, trotz aller Gleichgül-tigkeit des Westens. Kämpfe und Drohnenangriffe werden überschattet von dem lähmen-den Alltag durch Stromkürzungen, Wassermangel, Sanktionen aller Art, Reiseverboten. Gaza ist ein Synonym für Ausgeliefertsein, für Sippenhaft: es ist ein Riesen-Ghetto.
Auszüge aus den Texten:
Brief an eine Drohne.
Der Wunschzettel an den Weihnachtsmann: einen ganzen Tag lang Strom.
Zombies.
Die Jungen fühlen sich eingesperrt und kommen nicht voran. Und so wünschen sie sich statt diesem Nichts den nächsten Krieg herbei.
Den meisten Menschen gefallen Reisegeschichten, mich quälen sie. Sie erinnern mich an die Grenzen, die gesichtslose Mächte mir setzen.
Wie soll ich mich verändern und wachsen, wenn ich mein ganzes Leben auf diesem kleinen Fleck verbringe?
Hier stützen dich Familienbande und halten dich am Leben.
Der Status quo hat Bestand: eingemauerte Liebe, eingemauerter Tod.
Aber dann wurde ich schonungslos daran erinnert, dass der Geburtsort ziemlich stark mitbestimmt, ob du im Leben Erfolg hast oder nicht.
Ich fühl mich halb Mensch, halb eingesperrtes Tier, von der Welt abgeschnitten.
Wenn wir sagen, dass wir in Gaza leben, lachen wir, weil das hier kein Leben ist. Hier zu leben ist wie in einem Käfig zu sein: ich bin 26 und habe Gaza noch nie verlassen - nicht weil ich nicht möchte, sondern weil ich nicht kann.
Wie fast alle in Gaza kenne ich nichts anderes: es gilt, Kriege zu überleben, den Lebensunterhalt zu verdienen, die Würde zu wahren.
Trotzdem geht es weiter und wir haben eine Familie gegründet. Wir haben keine Wahl. Das Leben in Gaza bringt uns bei, jeden Moment zu genießen, weil wir im Bewusstsein leben, dass uns jederzeit alles genommen werden könnnte.
Die Jugend von Gaza ist seit Jahrzehnten von der Aussenwelt abgeschnitten. Allein in Gaza-Stadt sind Zehntausende von uns weggesperrt und vergessen - und dabei möchten wir doch nur ein Fenster zur Welt.
Uns wird von Anfang an beigebracht, dass es ein Richtig und ein Falsch gibt. Wenn wir dann zur Schule gehen, wird uns gesagt, dass es richtige und falsche Antworten gebe. Und nichts dazwischen. Da gibt es nichts zu verhandeln. Wir werden dazu erzogen, uns vor den eigenen Gedanken zu fürchten.
Wie eine Dichterin sagte“ Wir Palästinenser stehen jeden Tag auf, um den Rest der Welt das Leben zu lehren“. Trotz der Dauerkrise, in der wir leben, entdecken wir ein Fünkchen Licht am Ende des dunkelsten aller Tunnel.
Die Israelis mögen unsere Häuser und Schulen und sogar unsere Körper kaputtmachen, aber unsere Freude und unsere Feierlaune kriegen sie niemals klein.
Die ganze Welt soll wissen, dass wir uns in Gaza übers Leben freuen - genau wie alle anderen auf der Welt. Die ganze Welt soll wissen, dass wir Palästinenser weder Opfer noch Helden sind. Die ganze Welt soll wissen, dass die Jubeltriller einer palästinensichen Mutter beim Tod ihres Jungen nicht bedeuten, dass sie herzlos ist. Wenn ihr tatsächlich wissen wollt, wie es ihr geht, schaut ihr in die Augen und be-greift, was sie euch sagen. Die ganze Welt soll wissen: Wenn palästinensische Kinder Steine auf israelische Soldaten werfen, heisst das nicht, dass wir unsere Kin-der zu Hass erziehen oder Gewalt befürworten. Es ist für uns schlicht die einzige Möglichkeit, den Soldaten zu zeigen, dass wir uns wehren und verteidigen, nicht einfach resignieren. Die ganze Welt soll wissen, dass es in Palästina Schriftsteller, Künstler, Denker und vor allem auch Liebende gibt. Die ganze Welt soll wissen, dass wir Menschen sind, genau wie ihr.
Ich entschuldige mich dafür, am Leben zu sein.
Der Verlust unserer Freiheit macht uns zu flügellahmen Tauben, wir leben unser Leben ohne Hoffnung, haben schmerzlich kapituliert. Doch die Taube in uns lebt noch, flattert schwach. Wird sie je fliegen können?
Aus welchem Land kommst du denn? Es heisst Gefängnis. Und mit wem lebst du zusammen? Mit der Hoffnung.
Er träumt noch. Er lacht noch. Sie lächelt noch. Sie singen noch.
Sie versprachen mir die Rückkehr in mein Land, zum Grab meiner Mutter, zum Schatten der Weiden, zum Olivenbaum. Sie versprachen mir den Geruch des warmen Brotes, den grünen Thymian unter den Weiden, die Brise aus Haifa - nur sie hielten das Versprechen nicht.
I am here. Ich will einen Fußabdruck im Sand der Zeit hinterlassen.Ich weiss, dass Höhen und Tiefen zur Reise dazugehören. Mit jedem Atemzug kämpfe ich mich weiter den Berg hinauf. Mit jeder Träne, jedem Lachen oder Lächeln entscheiden wir, wie unser Fußabdruck einmal aussehen wird. Meiner wird aus Liebe und Leidenschaft bestehen.
Bin ich falsch auf dieser Welt oder ist diese Welt falsch für mich?
Jenseits aller politischen Polemik ist dieses wunderbare Buch ein Schrei nach Menschlichkeit und Aufmerksamkeit. Eine Aufforderung zum Nachdenken. Besonders für die westliche privilegierte Jugend, für die es selbstverständlich ist, für ein Praktikum oder für ein Semester um den halben Globus zu reisen.
We are not numbers sollte Pflichtlektüre sein im Schulunterricht.
Bei mir zumindest hat es einen Ehrenplatz im Regal.