Rezension zu "Friedrich Nietzsche in seinen Werken" von Lou Andreas-Salomé
Weltruhm erlangte die Frau mit der Peitsche durch ihre Beziehungen zu Friedrich Nietzsche, Paul Rée, Friedrich Carl Andreas, Rainer Maria Rilke und Siegmund Freud.
Cordula Kablitz-Post setzte ihr im Jahr 2016 mit dem Film „Lou Andreas-Salomé“ ein würdiges Denkmal.
Aber ihre Schriften kommen darin viel zu kurz. Deshalb seien hier einige genannt:
1885 erschien ihr erstes Werk mit dem Titel „Im Kampf um Gott“. Dem folgten 1892 „Henrik Ibsen's Frauen-Gestalten“ und 1894 „ Friedrich Nietzsche in seinen Werken“ Der Entwicklungsroman „Ruth“ wurde ebenso wenig beachtet wie die Spätherbstgeschichte „Aus fremder Seele“. Auf ‚„Rainer Maria Rilke“ sei gewiesen, das 1928 erschien und auf „Mein Dank an Freud“, ihr letztes Buch, welches 1931 veröffentlicht wurde.
Die Liebeserklärung an Friedrich Nietzsche verfasste die Autorin zu einer Zeit, in welcher sich ihr „Liebhaber“ bereits mehrere Jahre im Zustand der geistigen Umnachtung befand. Vielleicht das Hauptmotiv, weshalb sich Salomé ihm noch einmal intensiv zuwandte, nachdem sie, nach der Ablehnung seines zweiten Heiratsantrags 1882, wüste Beschimpfungen über sich ergehen hatte lassen müssen: „Dieses dürre schmutzige übelriechende Äffchen, mit ihren falschen Brüsten! Ein Verhängnis!“
In drei Teilen, „Sein Wesen“, „Seine Wandlungen“ und „Das ‚System Nietzsche‘“ erläutert Salomé nicht , wie der Titel zunächst vermuten lässt, Nietzsches Werke, sondern sie verbindet seine Schriften mit seiner Person: „Wenn es überhaupt die Aufgabe des Biographen ist, den Denker durch den Menschen zu erläutern, so gilt dies in ungewöhnlich hohem Masse für Nietzsche, denn bei keinem Andern fallen äusseres Geisteswerk und inneres Lebensbild so völlig in Eins zusammen.“
Einleuchtend teilt Salomé Nietzsches Leben und sein Schaffen in drei Perioden:
„Zehn Jahre, 1869-1879, dauerte Nietzsches Lehrthätigkeit in Basel; diese philologische Wirksamkeit fällt der Zeit nach fast völlig zusammen mit dem Jahrzehnt seiner Jüngerschaft Wagner gegenüber und mit der Veröffentlichung derjenigen Werke, welche von der Metaphysik Schopenhauers beeinflusst sind …“
„Seit dem Anfang der Siebzigerjahre bestand seine Verbindung mit Paul Rée, die im Herbst 1882 ihren Abschluss fand,—gleichzeitig mit der Vollendung der »Fröhlichen Wissenschaft«, des letzten derjenigen Werke Nietzsches, die noch auf positivistischer Grundlage ruhen.“
„Der Zeitraum aber zwischen der Niederlegung seiner Baseler Professur und dem Aufhören aller geistigen Thätigkeit überhaupt umfasst wiederum ein Jahrzehnt, die Zeit von 1879-1889. Seitdem lebt Nietzsche als Kranker, nach einem vorübergehenden Aufenthalt in der Anstalt von Professor Binswanger in Jena, bei seiner Mutter in Naumburg.“
Den Rahmen seiner Wandlungen bildeten, Salomé zufolge, seine Einsamkeit und sein Leiden. „So schreibt er einmal bei Gelegenheit einer Beileidsäusserung (Ende August 1881 aus Sils-Maria): ‚Es jammert mich immer zu hören, dass Sie leiden, dass Ihnen irgend etwas fehlt, dass Sie Jemanden verloren haben: während bei mir Leiden und Entbehrung zur Sache gehören und nicht, wie bei Ihnen, zum Unnöthigen und zur Unvernunft des Daseins.‘“
„‚Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen,—wusstet ihr das schon? Und des Geistes Glück ist dies: gesalbt zu sein und durch Thränen geweiht zum Opferthier,— wusstet ihr das schon?... Ihr kennt nur des Geistes Funken: aber ihr seht den Amboss nicht, der er ist, und nicht die Grausamkeit seines Hammers!’ (Also sprach Zarathustra II 33.)“
Salomé zeigt sich als Kennerin des Gesamtwerks Nietzsches und gibt auch Persönliches in Form von Briefen preis. Ihre Liebe aber gilt Zarathustra. „Zarathustra ist sozusagen der Nietzsche-Uebermensch, er ist der »Ueber-Nietzsche«. Infolgedessen trägt das Werk einen täuschenden Doppel-Charakter: es ist einerseits eine Dichtung in rein ästhetischem Sinn und kann als solche von rein ästhetischem Standpunkt aus verstanden und beurtheilt werden; andererseits aber will es nur in einem rein-mystischen Sinn Dichtung sein,—im Sinn eines religiösen Schöpfungsaktes, in dem die höchste Forderung der Ethik Nietzsches zum ersten Mal ihre Erfüllung findet.“
Die Autorin sieht in Nietzsche keinen Philosophen, sondern einen „Musiker von hoher Begabung“, einen „Denker von freigeisterischer Richtung, ein religiöses Genie und“ einen geborenen „Dichter.“
Über das religiöse Genie erfährt der Leser im zweiten Abschnitt, „dass das Christenthum des elterlichen Pfarrhauses seinem inneren Wesen ‚glatt und weich‘ angelegen habe—‚gleich einer gesunden Haut‘, und dass ihm die Erfüllung all seiner Gebote so leicht geworden sei wie das Befolgen einer eignen Neigung.“ „Der dunkle Instinct, der ihn hier zum ersten Mal aus lieb und theuer gewordnen Gedankenkreisen forttrieb, erwachte grade in diesem Heimathsgefühl, in diesem warmen ‚Zu Hause‘, von dem sich Nietzsches Wesen darin umfangen fühlte. Um in machtvoller Entwicklung zu sich selbst zu gelangen, bedurfte sein Geist der seelischen Kämpfe, Schmerzen und Erschütterungen,—er bedurfte dessen, dass sein Gemüth sich die Trennung von diesem ruhigen Friedenszustand anthat, weil seine Schaffenskraft von der Emotion und Exaltation seines Innern abhängig war: hier tritt uns die Erscheinung des Schmerzheischenden in der ‚Decadenten-Natur’ zum ersten Mal in Nietzsches Leben entgegen.“
An die Stelle eines „Gottes-Kultus“ habe Nietzsche „die bis zum Rausch entfesselte Lebens-Exaltation“, das Übermaß gesetzt. „Wer, gleich mir, mit irgend einer räthselhaften Begierde sich lange darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken und aus der halb christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, mit der er sich diesem Jahrhundert zuletzt dargestellt hat, nämlich in Gestalt der Schopenhauerischen Philosophie; wer wirklich einmal ... in die weltverneinendste aller möglichen Denkweisen hinein und hinunter geblickt hat..., der hat vielleicht ebendamit, ohne dass er es eigentlich wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal des übermüthigsten, lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem, der gerade dies Schauspiel nöthig hat—und nöthig macht: weil er immer wieder sich nöthig hat—und nöthig macht.... Wie? Und dies wäre nicht—circulus vitiosus deus?“
„—Also begann Zarathustra's Untergang“ zitiert Salomé im letzten Teil und beschreibt dann, wie „der religiöse Trieb, vom freien Denken genöthigt, sich streng individuell auszuleben, sich zuletzt, wie bei Nietzsche, aus dem eigenen Selbst etwas Göttliches erschafft, dann erzwingt er sich damit sofort wieder die absolutesten und reaktionärsten Machtbefugnisse, die je einem objektiv gedachten Gotte zustanden,—bis er den Verstand selbst, dessen Erkenntnissdrang ihm ursprünglich die Richtung gab, absetzt und ihm jeden ferneren Einspruch abschneidet. Aus dem Menschen soll der Gott erstehen, auch wenn der Mensch dies erst durch eine Rückkehr zu Kindheit und Unmündigkeit ermöglichen müsste.“
„Das Grosse ist: er wusste, dass er unterging, und doch schied er—lachenden Mundes, ‚rosenumkränzt‘—das Leben entschuldigend, rechtfertigend, verklärend—. In dionysischen Dithyramben klang sein Geistesleben aus, und was sie in ihrem Jubel übertönen sollten, war ein Schmerzensschrei. Sie sind die letzte Vergewaltigung Nietzsches durch Zarathustra.
Nietzsche hat einmal das paradoxe Wort ausgesprochen: ‚Lachen heisst: schadenfroh sein, aber mit gutem Gewissen‘ (Fröhliche Wissenschaft 200). Eine solche überlegene Schadenfreude, die des eigenen Schadens froh zu werden, ja, ihn sich selbst zuzufügen imstande ist, geht als ein heroischer Selbstwiderspruch und ein heroisches Lachen durch Nietzsches ganzes Leben und Leiden. In der gewaltigen Seelenkraft aber, durch die er sich so hoch über sich selbst zu stellen vermochte, lag, psychologisch betrachtet, für ihn eine innere Berechtigung, sich als mystisches Doppelwesen anzusehen, und liegt für uns der tiefste Sinn und Werth seiner Werke.
Denn auch uns tönt ein erschütternder Doppelklang aus seinem Lachen entgegen: das Gelächter eines Irrenden—und das Lächeln des Ueberwinders.“
Salomé schafft es am Ende, dass sie selbst, Nietzsche, Zarathustra und der Leser völlig zusammenfallen. Die Grenzen lösen sich auf und frau möchte sich am liebsten ganz den dionysischen Dithyramben hingeben.
„Mihi ipsi scripsi!“
Vera Seidl