Rezension zu "Marigold und Rose" von Louise Glück
Die Zwillinge Marigold und Rose haben so gar nichts gemeinsam, bis auf ihre Eltern. Während Marigold ihren Fokus nach innen legt, richtet Rose ihren Blick nach außen. Wenn Rose sprechen lernt, beschäftigt sich Marigold mit Beobachtungen.
Zwillinge können durchaus sehr unterschiedliche Charaktere entwickeln, was nichts Neues ist. Aber das Besondere an diesen beiden ist ihr Lebensalter. Sie sind noch Babys und nicht mal ein Jahr alt!
Louise Glück wagte ein literarisches Experiment. Wieso nicht einmal alles auf Anfang zurückspulen, und den imaginären Erzähler in bislang unbekannte Gebiete schicken? Wie kann man beispielsweise über das Lesen und Schreiben nachdenken, ohne Lesen und Schreiben zu können? Und wie ist das mit dem Denken überhaupt, das man doch erst lernen muss?
Die amerikanische Lyrikerin zeigt, wie das funktionieren kann, indem sie uns auf die Reise in eine entwicklungspsychologische Morgendämmerung einlädt. Dorthin, wo die ersten Zeilen auf die unbeschriebenen Blätter der Lebenserfahrungen angedacht werden. Jedenfalls so als ob. Großes Theater, wenn auch mit sehr jungen Darstellerinnen. Schon deshalb ergeben sich Gedankengänge, die schräger nicht sein könnten:
"Wer hat sich, dachte Marigold, um uns gekümmert, als Mutter ein Baby war?"
Ihre Sprache klingt dabei, wie eine serifenlose Linear-Antiqua aussieht. Ohne jede Ecken und Kanten, ohne Umwege und Ausschweifungen, klar und fast ein wenig unterkühlt. So, als ob man sich selbst in einem Spiegel betrachtet, und gleichzeitig durch ihn hindurch sieht. Faszinierend, wie die Dinge Gestalt annehmen. Beispielsweise wenn Rose die beiden lila Schleifen auf ihren Füßen betrachtet:
"Das waren keine Füße mehr, das waren Schuhe."
Wie es mit Marigold und Rose weitergeht? Ganz besonders wenn bereits am ersten Geburtstag ernsthafte Fragen anstehen. Denn wie kann es sein, dass zwei Personen "eins" werden? Und kann man sich überhaupt das Ende eines solchen Buches vorstellen? Zwar gibt es so etwas wie eine Schlusspointe, aber kann es das schon gewesen sein?
Wir werden es nie erfahren. So könnte man jedenfalls meinen. Louise Glück starb vor einem Jahr. Die Geschichte der Zwillinge aber nicht. In unseren Köpfen wird sie weitergehen, ganz so, wie wir es uns vorstellen mögen. Das dünne Bändchen täuscht den geringen Umfang also gewissermaßen nur vor.