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"Der Komfort der Reichen beruht auf einem Überfluss an Armen" (Voltaire)

Kaum ein anderes Volk neigt so sehr zur nostalgischen Verklärung seiner Vergangenheit wie die Briten. Geradezu liebevoll blicken sie zurück auf die Zeit imperialer Größe, die mit dem Ersten, spätestens aber mit dem Zweiten Weltkrieg zu Ende ging. Auch die bis heute weitgehend unveränderte starre Klassenstruktur des Landes bleibt von der nostalgischen Verklärung nicht ausgespart. In Deutschland oder Frankreich käme niemand auf die Idee, die Beziehung zwischen Herren und Dienern zum Gegenstand von Sachbüchern, Romanen, Spielfilmen und gar Fernsehserien zu machen. Anders ist es in Großbritannien, wo sich die Serie "Downton Abbey" seit 2010 größter Beliebtheit erfreut, ähnlich wie ihr Vorgänger in den 1970er Jahren, die Serie "Upstairs, Downstairs" (1971-1975). Der Mikrokosmos des großbürgerlichen oder adligen Haushalts mit seinem Beziehungsgeflecht zwischen Herrschaft und Dienerschaft ist für Briten ein Quell unerschöpflicher Faszination. Auffällig ist dabei die Neigung, ein harmonisches und konfliktfreies Bild vom Verhältnis zwischen Herren und Dienern zu zeichnen. Das Verhältnis wird, wenn überhaupt, nur selten kritisch hinterfragt. Genau diese oft fehlende kritische Haltung nimmt die Autorin Lucy Lethbridge ein. In ihrem Buch untersucht sie die Geschichte des britischen Dienstbotenstandes von der edwardianischen Ära um die Jahrhundertwende bis in die 1960er Jahre.

Lethbridge stützt sich auf Memoiren, Tagebücher und zeitgenössisches Schrifttum (z.B. Ratgeber für Haushaltsführung, Zeitschriften). Die historischen Akteure, sowohl Herren als auch Diener, kommen so oft wie möglich selbst zu Wort. Das Buch gewinnt dadurch ein hohes Maß an Anschaulichkeit und Lebendigkeit. Herrschaften und Dienstboten stehen in der Darstellung gleichrangig nebeneinander, was auch gar nicht anders sein kann, waren doch beide Seiten durch eine symbiotische Beziehung aufs engste miteinander verbunden. Lethbridge nimmt ausschließlich das häusliche Dienstpersonal in den Blick. Angestellte, die traditionell nicht zu den Dienstboten zählten, etwa Hauslehrer und Gouvernanten, bleiben ebenso unberücksichtigt wie Fachkräfte, die außerhalb des Hauses tätig waren (Gärtner, Gutsverwalter, Wildhüter usw.). Lethbridge richtet ihr Interesse sowohl auf die städtischen Haushalte der wohlhabenden Mittelschicht als auch auf die großen Landsitze der Gentry und der Hocharistokratie. Das Buch lässt sich der Sozialgeschichte zuordnen, ist aber nicht als wissenschaftliche Monographie angelegt. Lethbridge formuliert eingangs keinerlei Fragestellungen. Gleichwohl ist das Buch keine bloße Aneinanderreihung von Anekdoten. Es kreist um eine Reihe von Aspekten und Motiven: Die wechselseitige Wahrnehmung von Herrschaften und Dienern; die täglichen Arbeitsabläufe in vornehmen Haushalten; das Aufgabenprofil verschiedener Dienstbotenkategorien (z.B. Köchin, Zimmermädchen, Kammerzofe, Kammerdiener, Butler); das Image des Dienstboten in der Gesellschaft; sozioökonomische und kulturelle Entwicklungen im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Darstellung beginnt auf dem Höhepunkt des "Dienstbotenzeitalters" um 1900, als Arbeitskräfte im Überfluss vorhanden und billig waren, und verfolgt dann den allmählichen Bedeutungsverlust des Dienstbotenstandes im Laufe des 20. Jahrhunderts. Lethbridge spürt den Faktoren nach, die zum fast völligen Verschwinden der Dienstboten als Berufsgruppe und sozialem Typus führten.

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges beschäftigten rund 800.000 britische Haushalte Dienstboten. Die Zahl der Hausangestellten - mehrheitlich Frauen - belief sich auf fast zwei Millionen. Dienstboten waren mehr als nur eine praktische Notwendigkeit für die Bewältigung des Alltagslebens; sie waren ein Statussymbol. Mit der Beschäftigung von Dienstboten, mochten es wenige oder viele sein, stellten Bürger und Adlige gegenüber ihren Standesgenossen ihre Respektabilität unter Beweis. Um den Schein einer "standesgemäßen" Lebensweise aufrechtzuerhalten, wurden Dienstboten selbst dann noch beschäftigt, wenn die finanziellen Verhältnisse es eigentlich nicht mehr zuließen. Im Verhältnis von Herren und Dienern konservierten sich Lebensmodelle und Wertvorstellungen aus vormoderner, vorindustrieller Zeit: Dienstboten nahmen ihren Arbeitgebern sämtliche Alltagsaufgaben ab und ermöglichten ihnen dadurch ein bequemes Leben in kultiviertem Müßiggang. Das Selbstbild der adligen und bürgerlichen Arbeitgeber trug gönnerhafte und paternalistische Züge. Wer Dienstboten beschäftigte, der "bewahrte" Menschen vor einem Leben in Armut und Elend, ja besser noch, vor "vulgärer" und "entmenschlichender" Fabrikarbeit. Wohltätige Vereine "retteten" Waisen- und Straßenkinder durch eine Ausbildung für die Hauswirtschaft vor Kriminalität und Verwahrlosung. Ähnlich wie die Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau sowie die Beziehung zwischen Eltern und Kindern wurde die vermeintlich "vertrauensvolle" Beziehung zwischen Herren und Dienern zum Stützpfeiler der Gesellschaft stilisiert. Fernab von Städten und Industrieregionen war der Dienst auf einem Landsitz eine der wenigen beruflichen Optionen für geringqualifizierte junge Frauen und Männer kleinbürgerlicher und bäuerlicher Herkunft. Allzu oft wurde die Arbeit als Dienstbote zur beruflichen und privaten Sackgasse. Lethbridge zitiert aus vielen Quellen, die die Schattenseiten des Berufes illustrieren: Monotone, geistig abstumpfende Arbeit; ständige Fremdbestimmung; Verleugnung eigener Bedürfnisse; unfreiwillige Ehe- und Kinderlosigkeit; ein unerfülltes Privatleben. Trotz jahre- oder jahrzehntelanger Tätigkeit im Dienst einer Familie entstand fast nie ein persönliches Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Angestellten. Die soziale Distanz, das soziale Gefälle war einfach zu groß. Explizite Würdigung erfuhren manche Dienstboten erst nach ihrem Tod, wenn ihre Arbeitgeber in Todesanzeigen Dankbarkeit bekundeten.

Lethbridge lässt keinen Zweifel daran, dass die Tätigkeit als Hausangestellter kein Zuckerschlecken war, auch nicht im Vergleich zur Fabrikarbeit. Die enorme tägliche Arbeitsbelastung, der die meisten Dienstboten vor allem in großen Häusern ausgesetzt waren, stand in direktem Zusammenhang mit dem zügellos extravaganten Lebensstil des wohlhabenden Bürgertums und der Aristokratie, der nie hinterfragt und so lange gepflegt wurde, wie es die Finanzen zuließen. Lethbridge bietet dafür Beispiele, die man wahlweise erheiternd oder grotesk finden kann. Es herrschte eine aus heutiger Sicht schwer vorstell- und nachvollziehbare Verschwendung und Maßlosigkeit. Der drohnenhaft, wenn nicht gar parasitär anmutende Lebensstil der Herrschaften sorgte dafür, dass die Dienstboten rund um die Uhr beschäftigt waren. Kleider wurden mehrfach am Tag gewechselt und nach einmaligem Tragen sofort in die Wäsche gegeben. Den Herrschaften wurden täglich Unmengen an Speisen serviert, von denen nur ein Bruchteil tatsächlich verzehrt wurde. Da der technische Fortschritt (Zentralheizungen, Wasserleitungen, Elektrizität) nur langsam Einzug in vornehme Haushalte hielt, musste die anfallende Arbeit fast ausschließlich manuell erledigt werden. Gerade auf den unteren Stufen der Dienstbotenhierarchie war die Arbeit körperlich anstrengend und auszehrend. Lethbridge wendet sich gegen eine nostalgische Verklärung des Dienstbotendaseins. Zwar erfreuten sich Hausangestellte sicherer Arbeitsplätze und einer guten Versorgung im Haushalt ihrer Arbeitgeber. Diesen Vorteilen stand jedoch die geringe Wertschätzung gegenüber, die Dienstboten von allen Seiten entgegengebracht wurde. Herrschaften betrachteten ihre Diener nicht als Individuen mit eigenen Bedürfnissen und Interessen, sondern als "lebendes Inventar". In manchen Schlössern mussten sich die Diener mit dem Gesicht zur Wand wenden, wenn ihnen der Hausherr begegnete. Dienstboten galten nicht als Teil der Arbeiterklasse und wurden von der politisch organisierten Arbeiterschaft als rückgratlose "Lakaien" und Stützen einer überlebten Gesellschaftsordnung verachtet. Dass der Dienstbotenberuf nur so lange attraktiv war, wie es an Alternativen fehlte, zeigte sich während des Ersten Weltkrieges und danach. Als die Entwicklung der britischen Wirtschaft neue Berufsfelder hervorbrachte, nahm die Bereitschaft junger Menschen, in den Dienst zu treten ("to go into service"), spürbar ab. In der Zwischenkriegszeit häuften sich die Klagen über den Mangel an (guten) Dienstboten. Es trat das ein, was noch vor dem Ersten Weltkrieg unvorstellbar gewesen war: Die Nachfrage nach Dienstboten war größer als das Angebot.

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts ging die Zahl der Dienstboten in Großbritannien auf einen Bruchteil der Zahl zur Zeit des Jahrhundertanfangs zurück. Dafür gab es etliche Gründe: Die Verarmung vieler Adelsfamilien; die Entstehung neuer, attraktiverer Berufe; die Modernisierung des Wohnens und Haushaltens; die Preisgabe altmodischer Vorstellungen von einem respektablen und standesgemäßen Lebensstil. Sozioökonomische Veränderungen, technologischer Fortschritt und kultureller Wertewandel kamen zusammen. Die "tüchtige" Hausfrau, die alle Hausarbeiten selbst erledigt, nahm den Platz der nach und nach verschwundenen Dienerschaft ein. In der Geschichte des britischen Dienstbotenstandes spiegeln sich die Veränderungen, die Großbritannien im 20. Jahrhundert durchlebte. In der Verknüpfung dieser beiden Geschichten besteht der große Wert von Lucy Lethbridges Buch. Drei Kritikpunkte seien abschließend genannt. Erstens: Lethbridge lässt sich die Aspekte und Themen, die sie erörtert, zu sehr von den Quellen diktieren, die sie benutzt. Das ist besonders im Falle von Memoiren problematisch. Was in diesen Quellen nicht vorkommt - man denke an heikle Themen wie sexuelle Gewalt und Ausbeutung, ungewollte Schwangerschaften, Abtreibungen -, das behandelt Lethbridge nicht. Andere Quellengattungen (z.B. Gerichtsakten) hätten herangezogen werden müssen, um die Schattenseiten des Dienstbotenberufes noch besser auszuleuchten. Zweitens: Es wäre gut gewesen, wenn Lethbridge ihre Darstellung öfter mit "harten" Zahlen und Fakten untermauert hätte. Wenn man liest, dass der Herzog von Bedford noch in den 1930er Jahren einen Landsitz sowie zwei Stadtresidenzen in London besaß und allein auf seinem Landsitz 60 Dienstboten beschäftigte (S. 194), dann wüsste man als Leser gern, wie hoch die Gesamtzahl der Dienstboten war, auf welchen Betrag sich die Gehälter summierten und wie hoch der Anteil der Personalkosten an den Gesamtausgaben des herzoglichen Haushaltes war (zu den Gehältern kamen noch die Kosten für Verpflegung und medizinische Versorgung der Angestellten). Solche ergänzenden Zahlen fehlen zu oft. Drittens und letztens: Die Kapitelüberschriften sind so formuliert, dass sie keinen Rückschluss auf den Inhalt der Kapitel ermöglichen. Wer einen Blick ins Inhaltsverzeichnis wirft, der gewinnt keine Ahnung davon, worum es in den einzelnen Kapiteln geht. Das ist nicht leserfreundlich. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Dezember 2015 bei Amazon gepostet)

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